Montag, der 11. November 1918

In Compiègne treffen sich die Delegationen morgens um zwei Uhr zu einer abschließenden Sitzung. Rund drei Stunden später unterzeichnen erst Matthias Erzberger, dann seine drei Begleiter, wie von Hindenburg und Ebert geheißen, das Waffenstillstandsabkommen. Obwohl von Entente-Seite keinerlei Verhandlungen vorgesehen waren und sowohl Hindenburg wie Ebert eine Blanco-Vollmacht gegeben haben, hat der hartnäckige Erzberger, allseits anerkannte Nervensäge, noch sein Möglichstes getan und gefeilscht wie auf dem Basar. Am Ende gilt der Waffenstillstand für 36 anstatt nur für 30 Tage, bevor er wieder verlängert werden muss. Für die Räumung des Rheinlandes sind 31 Tage Zeit und die neutrale Zone am rechten Rheinufer soll auch nur 10 statt 30 bis 40 Kilometer breit sein. Auch die Truppen im Osten müssen nicht sofort abgezogen werden. Außerdem sind 5.000 Lastwagen, 5.000 Maschinengewehre und 300 Flugzeuge weniger abzugeben. Die Alliierten erklären, sie nähmen „in Aussicht“ Deutschland während des Waffenstillstandes in dem als notwendig gegebenen Maße mit Lebensmitteln zu versorgen, es würden keine deutschen Industriellen verfolgt, die in Belgien und Nordfrankreich Maschinen requiriert hätten und die Verwaltungseinheit von linkem und rechtem Rheinufer darf bestehen bleiben. Hindenburg und Groener versichern Erzberger, als er am Folgetag in Spa eintrifft, er hätte mehr herausgeholt, als sie für möglich gehalten hätten, und Hindenburg dankt ihm ausdrücklich für die „ungemein wertvollen Dienste“, die er dem Vaterland geleistet habe. Doch es bleibt dabei, dass Deutschland die besetzten Gebiete räumen und seine schweren Waffen abgeben muss, während die englische Blockade bestehen bleibt. Der französische General Foch konstatiert nach der Unterschrift, nun sei Deutschland den Siegern auf Gnade und Ungnade ausgeliefert. US-Präsident Wilson dagegen verkündet stolz: „Alles, wofür man kämpfte, ist erreicht worden. Es ist jetzt unsere glückliche Pflicht, durch Beispiel, verständigen, freundschaftlichen Rat und materielle Beihilfe bei der Einrichtung einer gerechten Demokratie in der ganzen Welt zu helfen.“

Sechs Stunden nach Unterzeichnung, um 11 Uhr morgens, tritt der Waffenstillstand in Kraft. Zwei Minuten zuvor wird noch als letzter offizieller Toter des Krieges der 26jährige Kanadier George Lawrence Price beim Durchqueren des Dörfchens Ville-sur-Haine im Südwesten Belgiens von deutschen Scharfschützen erschossen. Allerdings finden an der Front noch mehrere Stunden lang kleinere Scharmützel statt. In französischen, britischen und amerikanischen Städten dagegen ertönen um elf Uhr Glocken, Sirenen und Kanonenschüsse und lassen die sehnsüchtig wartenden Menschen in ausgelassenen Jubel ausbrechen. In Amerika kommt die Nachricht am Abend an. In New York wird die Freiheitsstatue, die den ganzen Krieg über dunkel blieb, erleuchtet.

 

In der deutschen Öffentlichkeit dagegen herrscht Entsetzen über die Bedingungen der Ententemächte: „Die Entente hat dem deutschen Volke unerhört grausame Waffenstillstandsbedingungen diktiert“, schreibt Theodor Wolff im Berliner Tageblatt. Wie auch Außenstaatsekretär Solf prangert er besonders die Abgabe der Eisenbahnen und die Pflicht die Besatzungssoldaten zu ernähren an und weist darauf hin, dass die Konsequenzen nicht mehr die alten Machthaber treffen. „… alle Schläge der Entente treffen nur noch das Volk. Will Wilson auch jetzt noch zulassen, dass man dieses Volk durch alle Scheußlichkeiten des Hungerelends jagt?“

Auch der elfjährige Raimund Pretzel, der später unter dem Namen Sebastian Haffner ein bekannter Journalist und Autor werden wird, ist fassungslos. Als er wie an jedem Morgen den Heeresbericht lesen will, ist kein Aushang mehr zu finden, keine deutschen Siegesmeldungen, die zu studieren und für sich in Hinsicht auf den versprochenen Endsieg zu interpretieren, vier Jahre lang sein geheimes Vergnügen war. „Der Endsieg, die große Summe, zu der sich all die vielen Teilsiege, die der Heeresbericht enthielt, unvermeidlich einmal zusammenaddieren mussten, war für mich damals ungefähr das, was für den frommen Christen das Jüngste Gericht und die Auferstehung des Fleisches ist oder für den frommen Juden die Ankunft des Messias.“ Statt dessen findet er nun die Waffenstillstandsbedingungen vor. „Sie sprachen erbarmungslos die Sprache der Niederlage; so erbarmungslos wie die Heeresberichte immer nur von feindlichen Niederlagen gesprochen hatten. Dass es so etwas auch für ‚uns‘ geben konnte – und zwar nicht als Zwischenfall, sondern als das Endergebnis von lauter Siegen und Siegen – mein Kopf fasste es nicht.“ Man könnte dieses Kindererlebnis mit einem Achselzucken abtun, doch in seinem Buch Geschichte eines Deutschen macht Haffner eindrücklich klar, wie aus den enttäuschten kleinen Jungen von damals die Nazis von Morgen wurden. „Die Frontgeneration hat ja im ganzen wenig echte Nazis geliefert … sehr verständlich, denn wer den Krieg als Wirklichkeit erlebt hat, bewertet ihn zumeist anders … eine kindische Wahnvorstellung, gebildet in den Köpfen von zehn Kinderjahrgängen und vier Jahre hindurch in ihnen festgenagelt, kann sehr wohl zwanzig Jahre später als tödlich ernsthafte ‚Weltanschauung‘ ihren Einzug in die große Politik halten.“ Der Krieg sei für ihn und seine Altersgenossen „ein großes, aufregend-begeisterndes Spiel“ gewesen, „das tiefere Unterhaltung und lustvollere Emotionen beschert als irgendetwas, was der Frieden zu bieten hat.“ Zumal, wenn ein Frieden wie der vom November 1918 ausfällt. „Es ist für die gesamte weitere deutsche Geschichte von verhängnisvoller Bedeutung gewesen, dass der Kriegsausbruch, trotz allem fürchterlichen Unglück, das ihm folgte, für fast alle mit ein paar unvergesslichen Tagen größter Erhebung und gesteigerten Lebens verbunden geblieben ist, während an die Revolution von 1918, die doch eigentlich Frieden und Freiheit brachte, fast alle Deutschen nur trübe Erinnerungen haben. … Obwohl der Krieg zu Ende ging, die Frauen ihre Männer, die Männer ihr Leben zurückgeschenkt bekamen, ist seltsamerweise kein festliches Nachgefühl mit dem Datum verbunden; vielmehr Missmut, Niederlage, Angst, sinnlose Schießereien, Konfusion, ja und schlechtes Wetter.“

 

In Berlin kommt es am Nachmittag tatsächlich wieder zu vereinzelten Schießereien. Immer wieder gibt es Gerüchte, die aber oft jeder Grundlage entbehren, in einzelnen Häusern hätten sich Offiziere verschanzt. Im Neuen Marstall haben sich inzwischen rund 600 Matrosen einquartiert, darunter auch die Johannisthaler Marineflieger. Sie geben sich den Namen Volksmarinedivision und wählen Wieczorek zu ihrem Kommandeur. Auch Hermann-Joseph Graf Wolff-Metternich, Reserveoberleutnant, früherer Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes und seit gestern Beauftragter der neuen Regierung für die Aufstellung einer Sicherheitswehr nimmt an der Versammlung teil. Er trägt eine Uniform ohne Rangabzeichen und erklärt, er habe seinen Adelstitel abgelegt. Er wirbt dafür, dass sich die Matrosen Stadtkommandant Otto Wels unterstellen. Der Liebknecht-Vertraute Dorrenbach dagegen spricht sich dafür aus, sich Polizeipräsident Emil Eichhorn zur Verfügung zu stellen. Am Ende gewinnt Wolff-Metternich. Bereits am Abend schieben 60 Matrosen vor der Reichskanzlei Wache. Am 14. November stoßen dann 60 Matrosen aus Cuxhaven, angeführt von Kapitänleutnant Friedrich Brettschneider zur Division. Unter nicht wirklich geklärten Umständen kommt es zum Konflikt und Brettschneider erschießt Kommandeur Paul Wieczorek. Zwei Tage später kommt er selber um. Teilweise wird davon ausgegangen, dass es sich bei Tötung Wieczoreks um den Versuch gehandelt hat, den linken Flügel der Matrosen zu schwächen.

Im Hotel Excelsior wird auf Initiative von Karl Liebknecht der Spartakusbund neu gegründet. Er soll parteiunabhängig und reichsweit agieren. Die am Vorabend in der Hauptstadt eingetroffene Rosa Luxemburg entwirft ein Sofortprogramm zum Schutz der Revolution. Dies sieht vor, dass die Polizei und alle Angehörigen der herrschenden Klassen entwaffnet werden. Dafür soll das Proletariat bewaffnet und eine Rote Garde aufgestellt werden. Alle Gemeinde- und Länderparlamente sollen durch frei gewählte Arbeiter- und Soldatenräte übernommen werden. Banken, Bergwerke, Hütten und Großbetriebe seien zu sozialisieren. Außerdem soll mit allen ausländischen Bruderparteien Kontakt aufgenommen werden, um die Revolution zu internationalisieren. Als Sprachrohr dient die in der Folge täglich herausgegebene Zeitung Die Rote Fahne. SPD-Politiker Hermann Müller bezeichnet sie einmal als „in Druckerschwärze umgesetzte Schreikrämpfe.“

 

Die Vereinbarung Eberts mit der OHL zeigt erste Wirkung. Der Rat der Volksbeauftragten telegraphiert an alle maßgeblichen Stellen des Heeres eine Andordnung Hindenburgs militärische Disziplin, Ruhe und straffe Ordnung unter allen Umständen zu wahren. Die Soldaten hätten den Befehlen ihrer Offiziere bis zur Entlassung zu gehorchen, die Soldatenräte die Offiziere bei der Aufrechterhaltung von Zucht und Ordnung rückhaltlos zu unterstützen.

Auch den Rittergutsbesitzern und anderen Großgrundbesitzern wird signalisiert, dass sie nichts zu befürchten haben. „Die ländliche Bevölkerung kann versichert sein, dass die Reichsregierung sie nachdrücklichst schützen wird vor allen Eingriffen Unberufener in ihre Eigentums- und Produktionsverhältnisse“, versichert der Rat der Volksbeauftragten den Mitgliedern des Kriegsausschusses der deutschen Landwirtschaft.

In Straßburg proklamiert  der Präsident des Landtags, der Arzt Eugen Ricklin, die unabhängige Republik Elsaß-Lothringen. Da das „Reichsland Elsaß-Lothringen“ seit seiner Gründung nach dem Deutsch-Französischen Krieg unmittelbar dem deutschen Kaiser unterstand, war es mit dessen Abdankung de facto führerlos und damit unabhängig geworden. In Strassburg hat sich jedoch bereits ein Arbeiter- und Soldatenrat gebildet, der parallel eine Räterepublik ausruft.

In Polen löst sich der Konflikt zwischen dem Regentschaftsrat des unter deutsch-österreichischer Ägide gegründeten Königreichs Polen (das nie einen König hatte) und der konkurrierenden Lubliner Volksregierung. Denn eine der letzten Regierungshandlungen des deutschen Kanzlers Max von Baden war die Freilassung von Józef Piłsudski aus Magdeburger Festungshaft. Der Anführer der polnischen Unabhängigkeitsarmee hatte im Krieg ursprünglich auf Seiten der Mittelmächte gegen Russland gekämpft, sich im Juli 1917 aber geweitert, die Polska Organizacja Wojskowa aufzulösen und seine Soldaten in das deutsche Heer einzugliedern. Nun ruft er in Warschau die Zweite Polnische Republik aus.

Doch das Land ist extrem zerstört. Die Aufteilung zwischen Deutschland, Österreich-Ungarn und Russland hat es mit sich gebracht, dass es einer der Hauptschauplätze des Krieges war. Manche Gegenden erlebten bis zu sieben Invasionen. Ungefähr ein Sechstel der Bevölkerung ist gestorben, Millionen wurden vertrieben, was nicht zerstört wurde, von den Besatzern gnadenlos geplündert. Aber welches Territorium ist überhaupt polnisch? In den folgenden Jahren erheben nicht nur die einstigen Herren Russland und Deutschland Anspruch auf Gebiete, die Polen für sich reklamiert, sondern auch die neugegründeten Staaten Ukraine, Litauen und Tschechoslowakei. In multiethnischen Gebieten kommt es zu bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen.

Einige Historiker meinen, dass der Krieg an diesem 11. November im Grunde nur an der Westfront zu Ende gegangen sei. Im Osten dagegen wurde vielerorts weitergekämpft, meistens im Namen von Wilsons „Selbstbestimmungsrecht der Völker“. Während Deutschland zähneknirschend die Gebiete an Polen abtreten musste, die Kriegsgegner 1919 im Versailler Vertrag Polen zusprachen, gab es zwischen Polen und der Ukraine einen Krieg um das einst von Österreich-Ungarn okkupierte Galizien, der im Juli 1919 mit einem Sieg Polens endete, und einen noch weit blutigeren mit der Sowjetunion, dem im März 1921 ebenfalls Polen gewann.

Wie von dem deutschen Abgeordneten Georg Gothein vorausgesagt, zählten zu den Hauptleidtragenden – nicht nur auf polnischem Gebiet – die Juden, die in kein nationales Konzept passten. So meldete der Jüdische Nationalrat in Wien bereits am 17. November 1918 allein aus 100 galizischen Ortschaften Plünderungen von jüdischen Häusern, Brandstiftung, Misshandlungen der Einwohner und sogar Morde. Als polnische Truppen am 21. November 1918 Lemberg einnehmen, kommt es zu heftigen Ausschreitungen der neuen Herren. Ein namentlich nicht genannter Berichterstatter des Berliner Tageblatts behauptet:“Es war grauenhaft. Innerhalb von zwei bis drei Tagen verwandelte sich das Lemberger Ghetto in einen rauchenden Trümmerhaufen. Die Zahl der Todesopfer, die das Wüten der polnischen Soldateska forderte, wird von Augenzeugen auf mehr als tausend geschätzt. Auf Schritt und Tritt begegnete ich halbverkohlten Leichen von Juden, die in der Verzweiflung aus den Fenstern der brennenden und von plündernden Soldaten umstellten Häuser gesprungen waren.“ Doch obwohl der Korrespondent offenbar persönlich vor Ort war, waren seine Schlussfolgerungen übertrieben. Heute geht man davon aus, dass bei der Einnahme Lembergs ungefähr 50 bis 150 Juden ermordet wurden, aber auch eine ähnliche Zahl christlicher Ukrainer. Begangen wurden die Verbrechen teils durch irreguläre Truppen und Kriminelle. Britische Zeitungen werfen den Deutschen 1919 vor, die Opferzahlen extrem übertrieben zu haben, um die Polen, mit denen sie um Westpreußen, Posen und Oberschlesien rivalisierten, in ein schlechtes Licht zu rücken. Insgesamt aber, so schätzen Historiker heute, wurden in der Zwischenkriegszeit in Osteuropa in zahllosen örtlichen Pogromen rund 60.000 Juden ermordet.

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