Christa Pöppelmann > November 1918 > Samstag, der 23. November 1918
Samstag, der 23. November 1918
In mehreren deutschen Ländern regt sich Protest gegen die starke Stellung des Berliner Vollzugsrates als Kontrollorgan der Regierung. So erklärt der Frankfurter Soldatenrat, der Rat der Volksbeauftragten dürfe nicht zu einem Organ des Berliner Arbeiter- und Soldatenrates gemacht werden. „Die Regierung kann keineswegs der Diktatur des Rates einer einzelnen Stadt unterstehen. Sie muss Organ des gesamten Volkes sein und das Vertrauen der Volksmehrheit haben.“ Und der hessische Arbeiter-, Bauern- und Soldatenrat verlangt, solle es in Berlin zu einer Diktatur kommen, dann sollten alle süddeutschen und gleich gesinnten norddeutschen Räte die Einberufung der Nationalversammlung in einer süddeutschen Hauptstadt veranlassen.
Und die Münchener Neuesten Nachrichten bringen es auf den Punkt „Es muss reiner Tisch gemacht werden in Berlin oder mit Berlin. … Gelingt es nicht alsbald, in Berlin ein Regiment aufzurichten, das nicht nur den Willen, sondern auch die Macht hat, die Grundsätze einer föderativen Demokratie durchzusetzen und dem Reich durch eine ordnungsmäßig gewählte Nationalversammlung, verhandlungsfähige Gewalten zu geben, dann muss sich das übrige Reich entschlossen von der bisherigen Reichshauptstadt lösen.“
Immerhin wird aus Berlin der Wahlmodus für den geplanten Reichsrätekongress bekannt gegeben. Jeweils 100.000 Soldaten, bzw. 200.000 Zivilisten sollen einen Delegierten wählen.
In München macht Ministerpräsident Eisner ernst mit seiner Ankündigung, die Vorgeschichte des Krieges zu enthüllen. Er veröffentlicht Berichte des damaligen bayerischen Gesandten in Berlin, Graf Lerchenfeld. Diese beweisen, dass Deutschland Österreich-Ungarn im Juli 1914 einen Blankoscheck ausstellte und zum Krieg gegen Serbien drängte. Arthur Zimmermann, damals Unterstaatsekretär im Auswärtigen Amt, informierte Lerchenfeld auch darüber, dass das Ultimatum an Serbien bewusst unannehmbar formuliert worden war. Im Auswärtigen Amt sei man einverstanden, dass Österreich die günstige Stunde nütze, selbst auf die Gefahr weiterer Verwicklungen hin, meldete Lerchenfeld dem damaligen bayerischen Ministerpräsidenten (und späteren Reichskanzler) Graf Hertling. Eisner liefert damit starke Indizien für die deutsche Kriegsschuld – wiederlegt aber seine eigene Behauptung, in Bayern habe man von alldem nichts gewusst. Theobald von Bethmann Hollweg, der Reichskanzler im Juli 1914 und damit politisch verantwortlich für den Kriegseintritt, meldet sich zu Wort und erklärt die Veröffentlichung einzelner Akten für entstellend. Er fordert ein geordnetes Verfahren, in dem die Akten aller beteiligten Länder veröffentlicht werden. Das Berliner Tageblatt zerpflückt zwar Bethmann Hollwegs Rechtfertigungen, stimmt der Forderung nach einem internationalem Tribunal aber zu: „Ein Staatsgerichtshof oder ein internationaler Gerichtshof im Haag, ganz gleich. Bis dahin sollte man die Akten, soweit sie noch existieren, hübsch unter Siegel halten, dann aber wird jeder alles sagen müssen, was er weiß.“
Für Unruhe sorgt auch die Forderung des Osmanischen Reichs an Deutschland, türkische Kriegsverbrecher auszuliefern. Im Berliner Tageblatt enthüllt eine Gruppe, die sich „Die türkische Kolonie in Berlin“ nennt, dass das deutsche Militär in der Nacht vom 2. auf den 3. November 1918 Mehmet Talât Pascha, Ismail Enver Pascha und Ahmet Cemal Pascha, den osmanischen Machthabern während des Ersten Weltkriegs („jungtürkisches Triumvirat„), sowie weiteren Hauptverantwortlichen des Völkermordes an den Armeniern, Mehmed Nâzim Bey, Bahattin Şakir und Mehmet Cemal Azmi Bey, mit einem U-Boot die Flucht aus der Türkei ermöglicht habe, und diese nun inkognito in Berlin leben. „Diese Männer, die gegen die Gewissens-, die Rede-, die Glaubensfreiheit, mit einem Worte gegen alle Grundsätze, die man heute überall triumphieren sieht, eine endlose Reihe von einzelnen politischen Morden und Verbrechen begangen“, heißt es, „diese Männer, die bei der verflossenen deutschen Autokratie eine Zuflucht erhofft, sie haben die Hände in das Blut Hunderttausender unserer armenischen Mitbürger getaucht, sie haben in ihrem Hasse Tausende unserer arabischen Brüder geopfert, in Palästina Tausende von Israeliten um Habe und Leben gebracht. Dabei ist auch der Teil der unschuldigen, türkischen Bevölkerung in Mitleidenschaft gezogen worden, der sonst vielleicht vom Kriege verschont geblieben wäre. … Die aufgeklärte türkische Jugend, vertrauend auf die Aufrichtigkeit feierlich verkündeter Grundsätze, glaubt vom deutschen Volke erwarten zu dürfen, … dass diese Verbrecher der Gerechtigkeit ihres Landes ausgeliefert werden.“ Tatsächlich steckt hinter der „türkischen Kolonie“ die neue türkische Regierung, die ihrem offiziellen Auslieferungsgesuch so Nachdruck verleihen möchte.
Was die Berliner Türken angeht, widerspricht am nächsten Tag ein Professor Dr. R. Ismail, dass das Ansinnen aus ihrer Mitte stamme. „Wir Türken, in der Mehrheit, können der deutschen Regierung überhaupt so etwas nicht zumuten, gleichviel welche politische Gesinnung wir vertreten. Im Gegenteil müssten wir mit der äußersten Energie gegen eine Verletzung des Asylrechts Verwahrung einlegen.“
Deutschland liefert die einstigen Verbündeten tatsächlich nicht aus aus. Ein türkisches Militärtribunal verurteilt sie dann im Sommer 1919 in Abwesenheit als Kriegsverbrecher zum Tode. Diese Aufarbeitung der Kriegsverbrechen wurde vornehmlich von Großwesir Damad Ferid Pascha, einem Schwager der vier letzten Sultane, und auf Druck der Alliierten vorangetrieben. Mustafa Kemal Atatürk wird jedoch sehr bald den offenen Umgang mit dem Völkermord beenden. Dimat Ferid Pascha muss 1922, nachdem er wegen Landesverrates zum Tode verurteilt wurde, aus der Türkei flüchten. Die Bestrafung der Täter aber nimmt ein armenisches Geheimkommando in die eigene Hand und bringt Talât Pascha, Cemal Pascha, Şakir und Cemal Azmi in der „Operation Nemesis“ um.