Christa Pöppelmann > November 1918 > Sonntag, der 22. Dezember 1918
Sonntag, der 22. Dezember 1918
Nach langen Tagen nasskalten Schmuddelwetters zeigt sich endlich mal wieder die Sonne. Das kalte, aber strahlend klare Wetter animiert viele zu Weihnachtseinkäufen. „Schon vor 1 Uhr nachmittags stauten sich vor den großen Warenhäusern die Kauflustigen … und bald entwickelte sich in allen Straßen ein lebhaftes Treiben, das in seinem buntem Bild den goldenen Sonntagen in Friedenszeiten wenigstens äußerlich nur wenig nachstand“, heißt es anderntags in den Berliner Zeitungen. „Trotz Wahrenknappheit und hoher Preise war die Kauflust überaus rege. Die Straßenbahn war kaum in der Lage, den starken Verkehr nach dem Zentrum der Stadt zu bewältigen.“
Eine böse Überraschung erleben allerdings die Verkäufer vieler Bonbon- und Zuckerwarengeschäfte. Die Kriminalpolizei hat groß angelegte Razzien organisiert und beschlagnahmt überall dort, wo der festgesetzte Höchstpreis überschritten wird – und das sind offenbar nicht wenige Geschäfte – den gesamten Warenbestand zugunsten von Lazaretten, Kinderheimen und anderen Wohlfahrtseinrichtungen.
Auch die Weihnachtsmärkte mit ihren vielen Buden sind aufgebaut. „Und auch der liebe Weihnachtskrimskrams ist wieder da: Kinderspielzeug, quietschende Schweinchen, singende Schnurrbärte, Blechposaunen, Liebknecht als Hampelmann und Rosa als Kriegsersatzpfefferkuchen“, schreibt das Berliner Tageblatt. Verkäufer sind vielfach Soldaten in ihrer Uniform – etwas, was früher streng untersagt war, weil es als Schändung des „Kaisers Rock“ galt. Auch viele feldgraue Drehorgelspieler sind unterwegs. Der Reichsausschuss der Kriegsbeschädigtenfürsorge ruft auf, ihnen keine Geld zu geben. Längst nicht alle seien kriegsversehrt und diese seien nicht genötigt, so ihr Brot zu verdienen, sondern sollten sich stattdessen an die staatlichen Stellen wenden.
Längst nicht alle deutschen Soldaten können Weihnachten zu Hause verbringen. In Rumänien ist das Schicksal der Heeresgruppe Mackensen noch immer unsicher. Auch aus der Türkei können ausländische Soldaten beider Lager wegen mangelnder Transportmöglichkeiten nicht heimgebracht werden. Im Berliner Tageblatt berichtet ein Dr. Wilhelm Feldmann, wie sich gestrandete Soldaten der Mittelmächte und ehemalige Kriegsgefangene der Alliierten im Istanbuler Hafenviertel Pera gemeinsam die Zeit vertreiben.
In Oberschlesien taucht die Idee auf, das Tauziehen zwischen Polen, Deutschland und Tschechien um die Region dadurch zu beenden, dass man einen selbstständigen Staat gründet. Der tschechische Staatspräsident Masaryk erklärt, dass sein Land in diesem Fall keinerlei Gebietsansprüche erheben werden. Doch die ganze Idee ist in erster Linie ein „Plan B“ deutscher Oberschlesier für den Fall, dass ihre Heimat nicht Teil Deutschlands bleiben soll.
Die deutschen Gewerkschaften und der Zentralverband deutscher Konsumvereine kommen überein, die im Krieg entstandene Frauenarbeit abzubauen. Zuerst sollen Frauen entlassen werden, deren Männer Arbeit haben, dann Frauen und Mädchen, die niemanden zu versorgen haben, dann jene, die nur ein bis zwei Personen ernähren müssen und schließlich alle übrigen. „Bei den Frauen stossen diese Bestrebungen allgemein auf ziemlich starken Widerstand“, verrät das Berliner Tageblatt immerhin.
Während all dem beschäftigt die Frage nach dem künftigen Frieden unablässig die deutsche Öffentlichkeit. In den Zeitungen wird eine Flut unterschiedlichster Meldungen gehandelt. Teilweise prognostizieren die Signale aus dem Ausland einen „Wilsonfrieden“, teilweise eine schonungslose Abrechnung der einstigen Kriegsgegner. Aus Frankreich heißt es nun, die Konferenz der Alliierten solle nicht Anfang Januar, sondern erst im Februar anfangen. Als Grund wird angegeben, dass der britische Premier David Lloyd George gerade mit einer Kabinettsumbildung beschäftigt ist. Der Korrespondent des Berliner Tageblatts jedoch mutmaßt, dass die persönliche Anwesenheit von Wilson den verbündeten Mächten unerwünscht sei. Der US-Präsident sei in Paris zwar mit Repräsentationspflichten eingedeckt, habe aber gerade mal eine halbe Stunde mit französischen Ministerpräsidenten Georges Clemenceau sprechen können. Außerdem gebe es eine versteckte amerikanisch-französische Preßfehde.
Theodor Wolff erklärt in seinem Montagskommentar, „dass Deutschland nicht ein Atom mehr bewilligen kann, als in den vierzehn Punkten Wilsons steht.“ Deutschland habe diese vierzehn Punkte angenommen, „wird sie loyals ausführen, aber kein Friedensvertrag kann und darf unterzeichnet werden, der uns etwas auferlegen sollte, was dem von Wilsons aufgestellten Friedensprogramm widerspricht.“ Dafür aber brauche Deutschland dringend geeignete Diplomaten. Wolff hält den Staatssekretär im Auswärtigen Amt Brockdorff- Rantzau für eine gute Wahl, lobt auch dessen Vorgänger Solf, dass er immerhin einige belastete Diplomaten wie Ministerialdirektor Kriege, „den Diktator der Rechtsabteilung“, entlassen habe, hält aber weit größere Säuberungen für nötig. Vor allem ein Dorn im Auge ist ihm die aufgeblähte deutsche Gesandtschaft in der Schweiz mit mindestens 1000 Köpfen. „Viele beschäftigen sich mit ‚Propaganda‘. mit der ‚Aufklärung‘ des neutralen Publikums, und viele andere beschäftigen sich glücklicherweise mit nichts. Es scheint, dass der Gesandte von Romberg an diesem Massenandrang unschuldig ist, und dass man ihm nur immer mehr Protektionspflanzen, die für den Schützengraben zu zart waren hingesendet hat. Dort wurde die Welt durch das Monokel betrachtet, dort wird noch jetzt, in der freien demokratischen Schweiz, von Lieblingssprösslingen der preußischen Reaktion Staatskunst verübt.“ Er schlägt vor, tausend Briefbogen zu nehmen „und den tausend Staatsdienern in der Schweiz mitzuteilen, sie hätten nun genug gedient.“