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Montag, der 23. Dezember 1918
In der Nacht hat es geschneit, doch der Morgen verwandelt die weiße Pracht schnell in grauen Matsch. Die Schulkinder in Berlin und Brandenburg jedoch können sich freuen. Sie erhalten ein zusätzliches Weihnachtsgeschenk. Ihre Ferien werden wegen des Brennstoffmangels bis zum 12. Januar verlängert.
Vermutlich trägt das nahe Weihnachtsfest dazu bei, dass die Matrosen im Schloss schnell eine Lösung – und ihren Lohn – haben wollen. Außerdem wird ihnen endlich ein neues Quartier, die Französische Straße 32 zugeteilt. Gegen Mittag beginnen sie, Büromöbel dorthin zuschaffen. Doch vor allem möchte die Mannschaft unbedingt noch heute ihre Löhne. Gegen 16 Uhr zieht Heinrich Dorrenbach mit 20 Matrosen in der Reichskanzlei in der Wilhelmstraße und möchte Hugo Haase sprechen. Da dieser nicht anwesend ist, verlangt er nach Emil Barth. Unter dem Arm hat er einen großen Kasten und erklärt, er werde den Schlosssschlüssel herausgeben, wenn die Matrosen ihre Löhnung erhielten. Barth ruft Wels in der Stadtkommandantur an. Doch der weigert sich, die 80.000 Mark auszuzahlen. Die Matrosen sollen den Schlüssel an ihn persönlich übergeben. Das verlange die Anweisung, die er von der Regierung erhalten habe. „Menschenskind“, will ihn Barth angeschnauzt haben. „Mach‘ doch keinen Unsinn. … Es wäre doch jedenfalls das denkbar Bedauerlichste, wenn es 24 Stunden vor Weihnachten … zu irgendwelchen unliebsamen Zusammenstößen käme.“ Wels jedoch weigert sich. Die Schlüssel müssten ihm oder Ebert übergeben werden.
Gegen 18 Uhr erscheinen mehrere Hundert Matrosen unter Führung von Heinrich Dorrenbach tatsächlich in der Wilhelmstraße vor der Reichskanzlei. Doch anstatt Ebert die Schlüssel zu übergeben, besetzen sie das Gebäude. Die anwesenden Regierungsmitglieder Ebert und Dittmann dürfen ihre Räume nicht mehr verlassen, außerdem wird die Telefonzentrale okkupiert. Trotzdem erfährt Otto Wels in der etwa 1,5 Kilometer entfernten Kommandantur Unter den Linden davon. Er alarmiert die Republikanische Soldatenwehr. Als er die Kommandantur verlassen will, um selber vor der Reichskanzlei nach dem Rechten zu sehen, muss er feststellen, dass draußen ebenfalls rund 800 Matrosen aufgezogen sind und die ganze Straße Unter den Linden zwischen Charlottenstraße und Schlossbrücke abgesperrt haben. Eine Delegation – wieder angeführt von Dorrenbach, der einen großen Kasten mit den Schlossschlüsseln unter den Arm geklemmt hat – stellt ihn und verlangt die Herausgabe der Löhne.
Während drinnen um Schlüssel und Sold gestritten wird, kommt von der Charlottenstraße ein Lastwagen, dessen „Zugehörigkeit“ nie geklärt werden wird. Die Matrosen versuchen ihn zu stoppen. Als dies nicht gelingt, eröffnen sie das Feuer. Vom Lastwagen wird mit einem Maschinengewehr zurückgeschossen. Ein zweites Fahrzeug, ein Panzerwagen, kommt aus gleicher Richtung hinzu und eröffnet auf der Höhe des Denkmals Friedrichs des Großen das Feuer auf die Matrosen. Ein 21jähriger Berliner Familienvater namens Zenker stirbt. Seine Frau und Kinder sind da gerade auf dem Weg, ihm einen Besuch abzustatten. Drei seiner Kameraden werden verwundet, einer davon stirbt später ebenfalls.
Dorrenbach und die anderen Matrosen im Schloss geraten ob der Schüsse so in Rage, dass Wels die Löhne doch lieber auszahlt. Doch es hilft ihm nichts mehr. Die Delegation nimmt ihn, seinen Adjutanten Anton Fischer und den Indentantur-Rat Bongard gefangen und bringt die drei zum etwa 500 Meter entfernten Marstall bringen. Die Republikanische Soldatenwehr greift nicht ein. Ein Teil der Mannschaften nimmt sogar die Armbinden ab und schließt sich den Matrosen an.
Wer die OHL über all das informiert hat, ist unklar. Wels behauptet, er habe just in einem unbeobachteten Moment einen Anruf von General Lequis erhalten. Andere Berichte sagen, Ebert habe über eine geheime, unbesetzte Leitung in Kassel angerufen. Jedenfalls gehen gegen 22 Uhr rund 300 Soldaten des Generalkommandos Lequis unter Leitung des Obersten Ferdinand Otto von Tschirschky und Boegendorff vor der Reichskanzlei in Stellung. Drinnen ist es Ebert jedoch inzwischen gelungen, mit den Besatzern zu verhandeln. Gegen 22:15 kommt Ebert aus der Kanzlei, besteigt einen Lastwagen und erklärt, er, er habe sich mit den Matrosen geeinigt. „Es ist in diesem furchtbaren Krieg doch schon soviel Blut geflossen, dass wir jetzt nicht noch einmal wegen bürgerlicher Zwistigkeiten Blut vergießen wollen. Also, die Leute werden jetzt von hier fortziehen, und ich bitte Sie nochmals dringend, jeden Zusammenstoß zu vermeiden und ebenfalls wieder abzurücken.“ Eine halbe Stunde später ist draußen auf der Wilhelmsstraße der Spuk erst einmal vorbei.
Währenddessen hätten einige Matrosen Otto Wels im Marstall am liebsten gelyncht, doch andere verhindern dies. Er wird während des Abends an verschiedene Orte gebracht, bis ihm Matrosenführer Fritz Radtke irgendwann erklärt, man habe beschlossen, ihn nicht mehr gefangen zu halten, behalte ihn jedoch zur eigenen Sicherheit in Schutzhaft. Wenig später kommen andere Matrosen in die Geschäftsstube, erklären, Wels werde den Marstall nicht lebend verlassen und vertreiben den protestierenden Radtke.
In der Reichskanzlei meldet sich unterdessen OHL-Chef Groener über Telefon. Er wirft Ebert vor, den linksradikalen Kräften schon wieder nachgegeben zu haben. Damit richte er den letzten Rest der Truppe, der den Offizieren noch treu sei, zugrunde. „Wenn so etwas noch einmal vorkommt, kann ich mit Ihnen nicht mehr weiter zusammengehen.“ Groener drängt darauf, Schloss und Marstall am nächsten Tag angreifen zu lassen, um die Matrosen zu vertreiben. Ebert wehrt sich, dass ein Blutbad im Moment die allerschlimmsten Folgen für die innenpolitische Lage des ganzen Landes haben könne. Anschließend bespricht er sich mit Scheidemann, Landsberg und Kriegsminister Schëuch.
Eine weitere Sitzung findet im Schloss statt. Dort sitzen Teile der Matrosen unter Vorsitz eines Matrosenführer namens Schulze – in den Zeitungen „Schulze (Bromberg)“ genannt – mit Abgeordneten der Soldatenräte zusammen. Kurz vor Mitternacht soll Schulze bei Ebert angerufen haben und ihn informiert, dass alle Berliner Regimenter, auch die Garde und die Republikanische Soldatenwehr, Wels Absetzung wünschen.
Möglicherweise ist das Gefühl, sich auf keines der Berliner Regimenter mehr verlassen zu können, der Grund, dass Ebert kurze Zeit später bei Groener anruft und ihm erklärt, er habe nun doch den Kriegsminister gebeten, am Morgen das Stadtschloss und den Marschall anzugreifen, um Wels zu befreien.
Im Schloss verständigt man sich unterdessen darauf, dass die Matrosen Otto Wels freilassen sollen, falls dieser sich bereit erklärt, als Stadtkommandant zugunsten seines Adjutanten Fischer zurückzutreten. Um halb eins begibt sich eine Abordnung zum Marstall. Laut dem Berichterstatter des Berliner Tageblatts, wird Wels dort „an der Leiche des erschossenen Matrosen“ gefangen gehalten. Die Matrosen im Marstall weigern sich jedoch, ihn zu entlassen, sondern bringen ihn stattdessen in den Keller. Die Soldatenräte kommen nun auf die Idee, den linken Abgeordneten Georg Ledebour zuzuziehen, um die Situation zu lösen. Er wird mit einem Auto in seiner Wohnung im gut 12 Kilometer entfernten Stadtteil Steglitz abgeholt.
Ebert wird später erklären, er habe gegen ein Uhr von einem Führer der Matrosen – gemeint ist wohl Radtke – per Telephon die Nachricht erhalten, man könne für das Leben von Wels nicht mehr garantieren. Erst dann will er mit Landsberg und Scheidemann den Entschluss zum Einsatz der Lequis-Soldaten getroffen haben.
Viele Berliner unter den Matrosen aber verlassen Schloss und Marstall und begeben sich nach Hause, um mit ihren Familien Weihnachten zu feiern. Ganz offensichtlich in der Überzeugung, dass die Sache ausgestanden ist.
Auch im Ruhrgebiet gehen die Auseinandersetzungen über einen Streik der Bergleute weiter. In Duisburg ziehen etwa 1000 Demonstranten zu den Zechen Neumühl und Westende und entwaffnen (und verprügeln) die Sicherheitstruppen, die dort einen Streik verhindern sollen.
Während es im Reich rund geht, erinnert die britische Regierung die deutsche daran, dass sie für die Verteidigung Lettlands verantwortlich ist.