Christa Pöppelmann > November 1918 > Donnerstag, der 30. Oktober 1919
Donnerstag, der 30. Oktober 1919
Finanzminister Erzberger kündigt an, dass die Schulden des Deutschen Reiches bis zum 1. April 1920 auf 212 Milliarden steigen werden – ein krasser Gegensatz zu den Vorkriegsschulden, die bei 5 Milliarden lagen. Schuld daran sind nicht nur die Ausgaben für Krieg und Wiederaufbau, sondern auch die schon heftig krassierende Inflation. Reparationszahlungen sind in diesem Haushaltsentwurf noch gar nicht berücksichtigt. Erzberger appelliert an die Kriegsgegner, auch im eigenen Interesse keine überzogenen Forderungen zu stellen. Denn nur ein wirtschaftlich florierendes Deutschland sei letztendlich zahlungsfähig. Er erinnert auch daran, dass die französischen Reparationen an Deutschland 1871 eine schwere internationale Wirtschaftskrise ausgelöst haben
Unterdessen verläuft die von Alliierten und Reichsregierung verlangte Heimkehr der deutschen Soldaten und Freikorpsleute aus dem Baltikum nur äußerst schleppend. Knapp 35.000 Mann sollen sich den „weißen“ russischen Truppen angeschlossen haben. Also verschärft die Regierung den Druck: Alle, die bis zum 11. November nicht die deutsche Grenze passiert haben, sollen als Fahnenflüchtige betrachtet werden und die deutsche Staatsbürgerschaft verlieren. Die radikale Maßnahme zeigt Wirkung. Bis zum 16. Dezember kehrt ein großer Teil der Einheiten nach Deutschland zurück – doch viele bringen einen gewaltigen Hass auf die Republik und alle demokratischen Kräfte mit.
Aus Kaiserslautern wird die Ermordung eines jungen Deutschen durch französische Soldaten gemeldet. Das Opfer hatte zuvor deutsche Mädchen, die mit den Franzosen zusammenstanden beleidigt und als diese ihn ohrfeigten, mit dem Stock zurückgeschlagen. Die Badische Zeitung nutzt dies zu einem ausführlichen Artikel über „das zuchtlose Wüten einer ruchlosen französischen Soldateska“ in der Vorderpfalz. Dagegen berichtet Kurt von Stutterheim, Korrespondent des Berliner Tageblattes, aus Köln, nach einem Jahr englischer Besatzung hätten sich beide Seiten aneinander gewöhnt. Von Feindseligkeit könne keine Rede sein, freundschaftlichen Verkehr gäbe es jedoch auch nicht. Das Auftreten der Engländer sei korrekt und zurückhaltend, frei von moralischer Überlegenheit und dem Ehrgeiz Kulturbringer zu sein. Stutterhof wird ein Jahr als Korrespondent nach England gehen und eine Schwägerin von Außenminister Anthony Eden heiraten.
Und Kölns Oberbürgermeister Konrad Adenauer rechnet mit rosigen wirtschaftlichen Zeiten, da der Import nicht mehr in erster Linie über Hamburg und Bremen, sondern die belgischen und holländischen Häfen und im weiteren Verlauf über Köln laufe. Was Adenauer nicht erwähnt, ist das „sogenannte Loch im Westen“, die Tatsache, dass angesichts ungeklärter Grenzverläufe und Hohheitsrechte, eine effektive Zollkontrolle und Besteuerung von In- und Exporten durch deutsche Behören nicht möglich war.
Glänzende Geschäfte machen auch die deutschen Winzer. Obwohl der Jahrgang 1919 wegen der mangelnden Sonne im Juni und Juli – ebenso wie der von 1918 – keine große Qualität verspricht, werden hohe Preise gezahlt, da der Weinbau während des Krieges vernachlässigt wurde und so in ganz Europa zur Mangelware wurde.