Sonntag, der 7. März 1920

Die Berliner Wissenschaft schlägt Alarm. Geheimrat Adolf von Harnack, Professor für Kirchengeschichte, Präsident der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften und Leiter der preußischen Staatsbibliothek, weist darauf hin, dass fast keine ausländischen Zeitschriften mehr abonniert werden können, weil sie zu teuer geworden sind, Fachbücher das Vierfache wie früher kosten, solche aus dem Ausland das Fünfzehnfache und Forschungsergebnisse nicht mehr publiziert werden können, weil Papier und Druck zu teuer geworden sind. Heinrich Rubens, der Leiter des Physikalischen Instituts der Berliner Universität, meint, die Mittel würden nicht einmal reichen, um Heizung, Beleuchtung und Arbeitslöhne zu zahlen. Fritz Haber, Erfinder des Haber-Bosch-Verfahrens, „Vater des Giftgaskrieges“, Nobelpreisträger und Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für physikalische Chemie fürchtet den Untergang der gesamten Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft. Sie müsse von den Stiftungsmitteln, also auf Kosten der Zukunft leben. Das die Wissenschaft keine Güter erzeuge, die im Staatshaushalt unmittelbare Aktivposten darstellten, erkenne die Politik womöglich erst zu spät, was hier verloren geht.

 

Die dreieinhalb Milliarden Mark, die die Nationalversammlung im Sommer 1919 für Lebensmitteleinfuhren bewilligt hat, sind zum 1. März aufgebraucht gewesen. Sofort zogen die Preise für Lebensmittel an.

 

Das Berliner Tageblatt startet eine neue Spendenaktion. Berliner Kinder sollen zur Erholung auf das Land oder an die See geschickt werden. Parallel verspricht die Heilsarmee Milchspenden. „Die hier residierenden und die hieher gesandten Führer der Heilsarmee sind Männer, in denen sich Güte sehr angenehm mit praktischem Verstande mischt“, schreibt Theodor Wolff im Berliner Tageblatt. „Sie kriechen hier in den letzten Jammerwinkel und erzählen mit ruhiger Sachlichkeit von der unendlichen Not, die ihnen auf ihren Streifzügen entgegentritt. Sie erzählen von den zahllosen Kindern, die im fünften Lebensjahr nocht nicht imstande sind, auf ihren Beinchen zu stehen. Sie erkennen das Unzureichende einer Hilfeleistung, die nur ein Tropfen Milch auf einem großen heißen Steine ist, und wünschen und planen mehr. … Aber sie und die Quäker werden erklären: ‚Die deutsche Wohltätigkeit muss die Hälfte der Kosten tragen…“ Wollen alle Kreise des deutschen Volkes, alle besitzenden und im Fiebertaumel schnell verdienenden Kreise begreifen, welche Pflicht sie gegenüber den schuldlosen Kleinen haben, die noch nie wirkliche Freude kennen lernten und die seit fünf Jahren der Mangel zermürbt. … Ist es nicht verständlich, dass die Fremden, die Abgesandten menschenfreundlicher Sekten und Vereinigungen, die in Berlin herumgehen, manchmal fragen: ‚Erkennt ihr selber auch den vollen Ernst eurer Pflichten, tut ihr selbst auch genug‘‘ Sie sehen das ergreifende Siechtum und daneben das sinnlos und rücksichtslos wütende Schiebertum. Der wiederwärtigste, geschmackloseste Luxus, die brutalste Verschwendungssucht brüsten sich, stellen sich herausfordernd zur Schau. In Hunderten von Restaurants und geheimen Nachtlokalen trinken grüne Bengel, die von der Börsenhaussse profitiert, oder gestohlene Tecppiche verhandelt oder sonst im Trüben gefischt haben, mit ausgeputzten Aphroditen den Sekt zu hundertzwanzig Mark. Oben drüber aber thront in den splendiden Speisesälen der Hotelpaläste, wo die Preise ins Märchenhafte steigen, eine sogenannte Creme. Wenn dort deutschnationale Dinierer das ‚Heil dir im Siegerkranz‘ und das ‚Deutschland, Deutschland über alles‘ gröhlen, stimmen großartig Schieber im ersten Smoking und verfettete Schieberinnen, die sich Gott sei Dank zu den monarchistischen Kreisen hingezogen fühlen, begeistert mit ein. …Warum nimmt nicht eine gerechte Behörde in jenen Restaurants, die nicht nur als nützliche Speisehäuser gelten können, nicht jedem Gast einen Beitrag für die Linderung des Kinderelends ab? Der Ekel wäre dann wenigstens nicht mehr ganz so ekelhaft. Den Patrioten, die bei der dritten Flasche ‚Deutschland, Deutschland über alles‘ aus wohlgenährter Heldenbrust herausschmettern müssen, würde eine doppelte Zahlung aufzuerlegen sein.“

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