Donnerstag, der 10. Oktober 1918

Um 8:50 Uhr Ortszeit legt das irische Schiff RMS Leinster in Dún Laoghaire (damals Kingstown) zur Fahrt nach Holyhead in Wales auf ab. An Bord befinden sich 771 Menschen, die meisten davon britische und internationale Soldaten, aber auch Krankenpflegepersonal, Postbeamte sowie 180 zivile Passagiere, darunter Frauen und Kinder. Genau eine Stunde später feuert der 27jährige deutsche U-Boot-Kapitän Robert Ramm den ersten Torpedo ab, der das Schiff knapp verfehlt. Zwei weitere Treffer zerstören es jedoch so, dass es binnen kurzem sinkt. 500 Passagiere, darunter 115 Zivilisten, sowie der Kapitän kommen ums Leben. 270 Menschen können von drei britischen Schiffen, die allerdings erst eineinhalb Stunden nach dem Unglück eintreffen, gerettet werden. Es ist die schlimmste Katastrophe auf hoher See seit der Versenkung der Lusitania. Und sie ist kein Versehen. Mag auch Ludendorff für das Heer kapituliert haben, Marine-Chef Reinhard Scheer sieht für seine Einheiten, keinen Grund, einen Waffenstillstand anzustreben. Der Admiral hat die deutsche Flotte bei der einzigen richtigen Seeschlacht des Krieges in der Nacht vom 31. Mai zum 1. Juni 1916 am Skagerrak befehligt und durch taktisch brillante Manöver den Engländern empfindliche Verluste beschert. Letztendlich aber hatte die Schlacht, die rund 2500 Tote auf deutscher und 6000 Tote auf britischer Seite forderte, keine weitere Bedeutung für den Kriegsverlauf gehabt. Der Volksmund spottete über das einstige deutsche Prestigeprojekt, das sündteure Lieblingsspielzeug von Wilhelm II. und seinem Admiral Tirpitz: „Lieb Vaterland magst ruhig sein, die Flotte schläft im Hafen ein.“ Umso mehr setzten die deutschen U-Boote den Briten zu. Scheer gehörte zu den unbedingten Verfechtern des uneingeschränkten U-Boot-Krieges und ist es trotz Waffenstillstandsgesuch immer noch.

 

Von der Front melden die Berichterstatter, dass der deutsche Rückzug eine Massenflucht der Bevölkerung auslöst. Angesichts der heranrückenden Kampflinie verlassen Hunderttausende von Menschen in den besetzten Teilen Frankreichs und Belgiens nur mit dem Nötigsten ihre Häuser. „Zu Tausenden liegen die Armen auf der Landstraße und sind den Unbilden der Witterung ausgesetzt.“ Ausländische Zeitungen berichten auch von absichtlichen und systematischen Verwüstungen der geräumten Gebiete durch deutsche Truppen. Verwundete würden niedergemetzelt, Krankenhäuser und Schulen gesprengt, Kirchen beraubt und weitere Verbrechen an Gefangenen und Bevölkerung begangen. Der neue Außenamts-Chef Wilhelm Solf weist dies in einem Interview mit dem Wolffschen Telegraphenbureau zurück. Es handele sich um gehässige Verhetzung, die Zerstörungsarbeit während des Rückzugs beschränke sich auf ein unvermeidliches Maß, um dem Gegner keine militärisch wertvollen Stützpunkte zu hinterlassen. Wenn man dies kritisieren wolle, dürfe man auch nicht die „vernichtende Beschießung“ der besetzten französischen Städte durch die Entente-Truppen als militärisch notwendig verteidigen.

 

Tatsächlich aber haben die deutschen Truppen nicht nur im Herbst 1914 bei ihrem Einmarsch in Belgien zahlreiche Kriegsverbrechen begangen – auch wenn der „Rape of Belgium“ durch die ausländische Kriegspropaganda noch einmal aufgebauscht wurde und Gräuelgeschichten wie abgehackte Babyhände schlicht erfunden waren. Die deutsche Kriegswirtschaft beutete die besetzten Gebiete in Nordfrankreich und Belgien auch systematisch aus, deportierte erstmals Zivilisten als Zwangsarbeiter, erzwang Gehorsam mit umfangreichen Geiselnahmen und Internierung und bestrafte Widerstand mit dem Tod. Tatsache ist auch, dass bei einem Rückzug im Februar und März 1917 – dem Unternehmen Alberich – rund um die Somme nicht nur Verteidigungsanlagen, sondern auch rund 280 Ortschaften systematisch zerstört, Bergwerke geflutet und 10.000 Zivilsten deportiert wurden. Der Schriftsteller Ernst Jünger, der als Leutnant daran teilnahm, schildert später in seinem Roman In Stahlgewittern: „Bis zur Siegfriedstellung war jedes Dorf ein Trümmerhaufen, jeder Baum gefällt, jede Straße unterminiert, jeder Brunnen verseucht, jeder Flusslauf abgedämmt, jeder Keller gesprengt oder durch versteckte Bomben gefährdet, jede Schiene abgeschraubt, jeder Telefondraht abgerollt, alles Brennbare verbrannt; kurz wir verwandelten das Land, das den vordringenden Gegner erwartete, in eine Wüstenei.“ In Deutschland jedoch sorgte das Bild- und Filmamt (Bufa) der OHL mit gefälschten Filmen, Fotografien und Berichten für den Glauben, dass die Franzosen selber an der ungeheuerlichen Verwüstung schuld seien, während deutsche Soldaten im Feindesland Kinder speisten, für Ordnung sorgten etc. Beim aktuellen Rückzug gibt es diese systematische Politik der verbrannten Erde zwar nicht, lediglich noch vorhandene Infrastruktur wie Straßen und Eisenbahnen werden unbrauchbar gemacht, doch angesichts der vergangenen Zerstörungen ist es kein Wunder, dass die Gegner überall Anzeichen für erneute Gräuel zu sehen glauben.

 

In Berlin findet am Abend eine Kundgebung mit einigen Hundert Menschen am Bismarck-Denkmal im Tiergarten statt – obwohl politische Versammlungen nach Kriegsrecht eigentlich verboten sind. Der Reichstagsabgeordnete Reinhard Mumm von der Christlich-Sozialen Partei, die Mumms Schwiegervater, der berüchtigte antisemitische Hofprediger Adolf Stoecker gegründet hatte, warnt vor einer „Preisgabe unserer Grenzgebiete“. In der linken Presse fragt man sich am nächsten Tag, warum die Polizei nicht eingeschritten ist, obwohl die Versammlung keineswegs spontan war, sondern bereits am Nachmittag in zahlreichen Lokalen Flugblätter mit Einladungen verteilt worden waren.

Auch die konservative Reichstagsfraktion erklärt jede „Preisgabe deutscher Erde“ für unvereinbar mit Deutschlands Ehre. Eine Räumung des besetzten Gebietes dürfe deshalb erst erfolgen, sobald ein ehrenvoller Friede und die Unversehrtheit des Reichsgebietes gesichert seien. Und der Deutsche Wehrsportverein erklärt, es gehe um Sein oder Nichtsein. „Draußen eine Welt von Feinden, bereit und gewillt, uns zu vernichten, die uns auf unserem eigensten Boden mit Lüge, Verleumdung, Bestechung und Schlagwort bekämpft, um Körper und Seele unseres Volkes zu vergiften. Im Andenken an die Hunderttausende, die ihr Leben auf dem Altar des Vaterlandes opferten, und im Bewusstsein der hohen Verantwortung für das Reich und unserer Kinder Zukunft wird niemand die Schmach und die Schande auf sich laden wollen, des deutschen Namens unwert zu sein, deutsche Treue und deutsches Wort gebrochen zu haben. Nichtswürdig ist die Nation, die nicht ihr alles freudig setzt an ihre Ehre!“

In der Königlichen Bibliothek gibt es auf Betreiben des preußischen Kultusministers Friedrich Schmidt-Ott ein Treffen mehrerer patriotischer Verbände. Die Idee dahinter: Eine „levêe en masse“, eine Erhebung des Volkes zu organisieren, um die Kriegsgegner damit zu beeindrucken. Die Vertreter der Vaterlandspartei tun weiter, als gäbe es für Deutschland noch irgendetwas zu gewinnen. Der Theologe Ernst Troeltsch, der für den gemäßigten Volksbund für Freiheit und Vaterland teilnimmt, spricht später von einer „Konferenz zur Beförderung der Endkampf-Stimmung“ und erklärt, er habe noch nie einen Mann von öffentlicher Stellung so unerhört lügen gesehen wie Admiral Tirpitz auf dieser Versammlung. „Der Eindruck war fürchterlich.“

 

In der überfüllten Philharmonie dagegen wirbt der exzentrische Theaterkritiker und Publizist Maximilan Harden, der früher selbst für einen Eroberungsfrieden eingetreten ist, vor begeisterten Anhängern für ein Eingehen auf Wilsons Forderungen, auch die Räumung der besetzten Gebiete. „Waffenruhe aber bedeutet Friede, da die 14 Punkte Wilsons alle Streitfragen regeln … Im Sinne der Eroberer mag es ein schlechter Frieden sein … Ich sage aber, es ist der beste, der seit Jahren von diesem Unheil zu erwarten war.“

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