Christa Pöppelmann > November 1918 > Donnerstag, der 16. Oktober 1919
Donnerstag, der 16. Oktober 1919
Im französischen Senat wirbt der französische Ministerpräsident Georges Clemenceau für die Ratifizierung des Versailler Friedensabkommens. In seiner Rede wechseln heftige Ausfälle gegen Deutschland mit dem Appell, man müsse mit der Zeit zu einer Aussöhnung mit Deutschland kommen, da 60 Millionen Menschen im Zentrum Europas einfach ein Faktum seien, mit dem man sich abfinden müsse. Die augenblicklichen 100.000 Soldaten, die der Vertrag Deutschland noch zugesteht, hält er für harmlos – was Frankreich betrifft – aber nötig – was eine eventuelle Abwehr des Bolschewismus angeht. Was die Umsetzung des Vertrags angehe, so werde Deutschland natürlich versuchen, die Franzosen zu betrügen. Aber das wisse man und sei darauf vorbereitet. „Ich möchte sagen, dass ich schon die einzelnen Punkte kenne, bei denen wir übers Ohr gehauen werden sollen.“ Persönlich habe er für die Zukunft mehr Angst vor der wirtschaftlichen Stärke Deutschlands als der militärischen, andererseits müsse Deutschland arbeiten können, um Frankreich den Wiederaufbau der verwüsteten Regionen zu bezahlen. Er hege jedoch die Hoffnung, die Deutschen auf Dauer zur Vernunft zu bekehren, auch wenn er sie nicht verstehe. „Ja, ich glaube sogar, dass der französische Geist außerstande ist, den Deutschen zu begreifen.“
Er schwadroniert auch ausführlich über ein dickes Aktenstück, in dem alle Verbrechen der deutschen Soldateska verzeichnet seien, und den Aufruf „An die Kulturwelt“, der deutschen „Geistesgrößen“, aus dem Oktober 1914, in dem alle Vorwürfe der Kriegsgegner an Deutschland pauschal zu Fake News erklärt werden.
Theodor Wolff stimmt in seinem nächsten Montags-Leitartikel zu, dass der Aufruf ein fürchterliches Dokument gewesen sei (und weist darauf hin, dass er ihn schon damals scharf verurteilt habe.) Aber auch die Gegenseite erkläre ihre Truppen pauschal für schuldlos. „Es ist überall; hüben wie drüben, wie auf den Bildern der Versailler Hofmaler, wo man die Königsmätressen umringt von huldigenden Tugendgenien sieht. Und die Ritter vom Geiste gefallen sich allzulicht in der Rolle des Ritters Don Quichotte, der jeden Misthaufen wie ein Bollwerk der Ehre schützt.“
Er äußert die Hoffnung, dass der von der Nationalversammlung eingesetzte Untersuchungsausschuss zur Kriegsschuldfrage ehrliche Aufklärung bringen wird.
Über die widersprüchliche Mischung aus Versöhnungssignalen und Drohungen mokiert er sich und fragt, warum man, wenn man ein Wiedererstarken des preußischen Militärgeistes fürchte, nichts dafür tue, das neue Regierungssystem in Deutschland zu stärken.
Der deutsche Außenminister Hermann Müller kontert am 23. Oktober in einer Rede vor der Nationalversammlung mit der Feststellung, aggressive Töne finde man momentan eher in Frankreich als in Deutschland. Mit Nachdruck fordert er die baldige Freilassung der deutschen Kriegsgefangenen.