Christa Pöppelmann > November 1918 > Freitag, der 25. Juli 1919
Freitag, der 25. Juli 1919
In Weimar gehen die Rechten – ungeachtet ihres Versprechens, den Befürwortern der Vertragsunterzeichnung ihre ehrenhaften Motive nicht abzusprechen – zur Schlammschlacht über. Der mecklenburgische DNVP-Abgeordnete Albrecht von Graefe, später Teilnehmer des Hitler-Ludendorff-Putsches, wirft den Parteien der zerbrochenen Weimarer Koalition vor, angefangen mit ihrer Friedensresolution 1917 bis zum Waffenstillstandsvertrag von Compiègne systematisch auf den Zusammenbruch Deutschlands hingearbeitet zu haben. Auch der Versailler Friedensvertrag ist für ihn eine Folge der von der SPD verschuldeten Revolution. Doch Matthias Erzberger kontert. In einer gewaltigen und sehr langen Rede enthüllt er Details über die Kriegspolitik der damaligen kaiserlichen Regierung und führt an, wie im Gegenteil nicht die Friedensresolution, sondern das Beharren der Militärs, doch noch einen Sieg herbeizuführen, zu der verheerenden Niederlage geführt habe. „Deutschland hatte ja vier Jahre überhaupt keine politische Regierung, sondern eine Militärdiktatur. … Es herrschte geradezu ein System in Deutschland, das in dem Moment, wo die Politik sich einmal vorwagte, es immer die allmächtigen Militärs waren, die gegen diese schwache Politik auftraten. Das ist die tiefste Wurzel der gegenwärtigen Revolution. …. Wer hat bei uns den Krieg verloren? Ich habe es ihnen nachgewiesen: Diejenigen, welche den handgreiflichsten Möglichkeiten eines maßvollen und würdigen Friedens immer wieder einen, unvernünftigen, trotzigen und verbrecherischen Eigensinn entgegenstellten. … Nur weil Sie den Frieden, als es noch Zeit war, zurückgewiesen und zu Boden gestampft haben, den Frieden, den Ausgleich, der die alten Grenzen des Reiches aufrecht erhalten sollte, abgelehnt haben, mussten wir den anderen Frieden unterzeichnen. … Dadurch, dass wir Ihren Waffenstillstand und Ihren Frieden unterzeichnen mussten, haben wir für Ihre Schuld gebüßt. Diese Schuld werden Sie niemals los, und wenn Sie hundertmal ihre Hände durch ein ‚Nein‘ in Unschuld waschen.“ Klarer ist nie gegen die Dolchstoßlegende Stellung bezogen worden und Erzberger erhält frenetischen Applaus.
In der abgeschiedenen Welt von Weimar. Außerdem kommt die Anklage eben von Erzberger, den auch viele Menschen, die politisch auf der gleichen Seite stehen nicht mögen. Im Tagebuch von Harry Graf Kessler liest sich die Auseinandersetzung so:
„Der Deutschnationale Graefe, eine schlanke, feine, etwas spanisch-nervöse Erscheinung mit einem vornehmen und blassen Gesicht und schon leicht ergrauendem Spitzbart, griff Erzberger und die Revolution an, indem er sie für die Katastrophe verantwortlich machte; namentlich Erzberger auf Grund der Enthüllungen Botho Wedels als Urheber der Indiskretion über den Czerninschen Immediatbericht vom April 1917. Graefes Rede war rhetorisch äußerst wirksam, das blasse, feine, ernste Gesicht, die schöne, gepflegte Stimme, der schwere Vorwurf, daß durch Erzbergers Indiskretion der Frieden im Jahre 1917 verhindert worden sei, dann ein Zitat aus einer Rede von Bismarck, durch das angedeutet wurde, Erzberger sei vielleicht bestochen gewesen von Österreich oder Frankreich.
Erzberger, der am Ministertisch bis dahin vollmondartig gelacht hatte, wurde ganz blaß und rot und schrie: »Unverschämtheit, was meinen Sie damit?« Graefe ließ sich aber nicht aus dem Konzept bringen, sondern wiederholte das Zitat. Man fühlte von diesem Augenblick an, daß es ein Ringen auf Tod und Leben war, daß zwei riesenhafte, weit über die Mauern des Theatersaales hinausreichende Gewalten einander an der Kehle hatten.
Als Graefe sich setzte, hatte man das Gefühl, daß die Situation rhetorisch nicht mehr gesteigert werden könne. Erzberger mit seiner Spießergestalt, seinem klobigen Dialekt, seinen grammatischen Sprachfehlern fiel zunächst ganz ab, obwohl er sehr geschickt und dramatisch anfing mit: »Ist das alles?«
Ich stand unmittelbar hinter ihm an der Rednertribüne, sah seine schlecht gemachten, platten Stiefel, seine drolligen Hosen, die über Korkzieherfalten in einem Vollmondhintern münden, seine breiten, untersetzten Bauernschultern, den ganzen fetten, schwitzenden, unsympathischen kleinstbürgerlichen Kerl in nächster Nähe vor mir: jede ungelenke Bewegung des klobigen Körpers, jeden Farbenwechsel in den dicken, prallen Wangen, jeden Schweißtropfen auf der fettigen Stirn. Aber allmählich wuchs aus dieser drolligen, schlecht sprechenden, ungeschickten Gestalt die furchtbarste Anklage empor, die schlecht gemachten, schlecht gesprochenen Sätze brachten Tatsache auf Tatsache, schlossen sich zu Reihen und Bataillonen zusammen, fielen wie Kolbenschläge auf die Rechte, die ganz blaß und in sich zusammengeduckt und immer kleiner und isolierter in ihrer Ecke saß. Als er das Pacellische Telegramm verlas, da stieg uns allen das Blut in die Augen. Der alte Nuschke, der in meiner Nähe stand, sah aus, als ob er einen Geist sehe. Ein Zentrumsabgeordneter rief mit unterdrückter Stimme, die wie ein Seufzer klang, in die lautlose Stille: »Und danach ist mein Bub gefallen!«
Dann ging es wie ein Gemurmel und dann wie ein Meerestosen durch das Haus. Die ganze Linke, drei Viertel des Hauses, war auf den Beinen und gegen die kleine, vor Wut bebende und blasse Rechte gewendet. Man schrie: »Mörder, Mörder!« Es sah aus, als ob sich der ganze Block der Linken zusammengeballt auf die Rechte stürzen und sie auf ihren Sitzen erwürgen würde. Blut lag in der Luft. Einzelne riefen: »Staatsgerichtshof«; Erzberger antwortete: »Wird schon kommen!« Als er geendet hatte und schwitzend sich an mir vorbeidrängte, sprang die Rechte auf, Hugenberg, Semler, Roesicke, Graefe! Ein jeder meldete sich zu persönlichen Bemerkungen; Semler, blaß und in einer lächerlichen Weise, Saint-Just ähnelnd, stand vor Erzberger in Positur, wollte auf ihn mit den Fäusten losgehen, wurde von Parteigenossen zurückgehalten.
Das ungeheure Pathos der Situation – ein Volk, das zum ersten Male die Wahrheit sieht – wuchs gigantisch über die Äußerungen der Erregung empor und schien sogar deren Wirkung zu dämpfen. Etwas weniger, und ich glaube, es wäre wirklich Blut geflossen.“