Christa Pöppelmann > November 1918 > Mittwoch, der 8. Januar 1919
Mittwoch, der 8. Januar 1919
Die Lage in Berlin spitzt sich zu. Unter den Aufständischen wird bekannt, dass Truppen auf die Stadt zumarschieren. Außerdem wird überall ein SPD-Flugblatt mit dem Titel „Die Stunde der Abrechnung naht“ plakatiert und verteilt. Es ruft die Bevölkerung auf, die Regierungsübernahme der Linken zu verhindern und droht diesen mit Vernichtung. Gewalt, heißt es, könne nur mit Gewalt bekämpft werden.
Doch links sieht es nicht anders aus. Während im Nachhinein viele Beobachter urteilen, dass der Aufstand am Abend des 7. Januar bereits gescheitert sei, da es nicht gelungen sei, genügend Mitkämpfer zu aktivieren, wirft sich jetzt Rosa Luxemburg mit all ihrer rhetorischen Macht und all ihrer Autorität in den Kampf in die Bresche und verlangt in einem flammenden Aufruf für die Rote Fahne, zu handeln und nicht zu verhandeln. Die Regierung sei der Todfeind, mit dem Todfeind rede man nicht, sondern müsse ihn beseitigen.
Überhaupt ist die ganze Angelegenheit auch ein Medienkrieg. An manchen Tagen des Aufstands tobt die Schlacht in den entsprechenden Zeitungen heftiger als auf den Straßen. Das gilt einerseits für die gegenseitigen Klassifizierungen als „Schlächter“, „Terroristen“ etc., andererseits für die Informationen, die gehandelt, bzw. verschwiegen werden. Die tatsächlichen Ereignisse zu rekonstruieren ist extrem schwer, da sich die Darstellungen teils fundamental widersprechen und jedes Gerücht, das in das eigene Weltbild passt, abgedruckt wird. Während der Historiker Mark Jones zu dem Ergebnis kommt, das viele der kleinen Schießereien, die es immer wieder gibt, offenbar anhaltslos und aus Panik heraus entstanden sind, ist in den zeitgenössischen Darstellungen immer der politische Gegner schuld.
So wird der Vorwärts am 11. Januar berichten, es habe bereits mehr als 200 Tote auf den Straßen Berlins gegeben – was auf jeden Fall übertrieben ist. Die Freiheit dagegen weiß von mehreren Hinrichtungen zu berichten – die zumindest zum Teil zweifelhaft sind. Beide Seiten werfen einander vor, dass auf unschuldige Passanten geschossen werde, sogar Sanitäter und „das Zeichen des roten Kreuzes“ nicht geachtet würden und Dum-Dum-Geschosse eingesetzt. Der Vorwärts wirft den Spartakisten vor, im Rahmen der Revolution auch Raubzüge und Einbrüche zu begehen, die Freiheit den Regierungstruppen, betrunken und nur „zum Spaß“ Passanten mit Schüssen in Panik zu versetzen.
Mit dem Berliner Tageblatt fehlt zudem die Zeitung, die sich am damals am meisten um Objektivität bemühte. So heißt es zum Beispiel über einen Versuch der Regierung, das Verlagshaus Mosse, in dem eben jenes Tagblatt erscheint, zu befreien, in der Freiheit (USPD), acht der Angreifer wären getötet worden, während die Verteidiger keinerlei Verluste erlitten hätten, während der Vorwärts (SPD) von sehr schweren Verlusten, darunter mehrern Toten bei den Verteidigern spricht. Hans Lachmann-Mosse dagegen, der während des Angriffs in der Redaktion ist, schildert den ganzen Angriff später dann weit weniger dramatisch als beide Blätter und erwähnt nur einen leicht Verwundeten. Außerdem sagt er, er habe den freien Abzug der Bewohner des Hauses, von denen anderswo nicht die Rede ist, bewirken können.
Auch der Flaneur Harry Graf Kessler ist wieder unerschrocken im Zentrum unterwegs, stößt immer wieder auf Absperrungen, gerät an den Rand von Schießereien und schnappt Gerüchte auf, welche Gebäude von Spartakisten, welche von Regierungstruppen besetzt sein sollen. Die Stimmung sei heute wesentlich aufgeregter, die Gefechte machten den Eindruck eines Vorspiels, dem die Tragödie folgen soll, hält er fest. Einige der Bekannten, die er trifft, meinen, die Regierung sei am Ende und die Gegenrevolution werde schon vorbereitet, andere hoffen auf Verhandlungen, wieder andere geben zu Bedenken, dass man sich vielleicht mit der USPD einigen könne, die Spartakisten Verhandlungen aber ablehnen. Trotzdem sind am Potsdamer Platz die großen Cafés – Josty, Fürstenhof, Palastcafé und Haus Vaterland – geöffnet und gut besetzt. Die Kapellen spielen und auf dem Platz preisen Straßenhändler Zigaretten, Malzbonbons und Seife an.
Währenddessen kann die Republikanische Soldatenwehr den Potsdamer Bahnhof zurückerobern. Die Reichsdruckerei wird in der Nacht von den Gardefüsilieren und Leuten der Sicherheitswehr, die von Eichhorn abgefallen sind, befreit.
Zu allem Überfluss flattert der deutschen Regierung noch unliebsame Post aus England ins Haus. Die britische Regierung fordert angesichts der Kämpfe im Osten, „jede Herausforderung“ der polnischen Bevölkerung, in Ost- und Westpreußen, Posen und Schlesien zu unterlassen. In Deutschland ist man jedoch sieht man die Provokation keineswegs auf der eigenen Seite. Der neue Außenamtschef Brockdorff-Rantzau erwidert, schon sein Vorgänger Solf habe zugesagt, die Entscheidung der Friedenskonferenz in Sachen deutscher Ostgebiete zu respektieren. Diese Entscheidung aber gebe es noch nicht und so seien es die Polen, die durch gewaltsame Übernahme der Macht versuchten, bereits vor dem Spruch der Friedenskonferenz Fakten zu schaffen, wohl in der Hoffnung, so Fakten zu schaffen, die die Konferenz auch dann nicht wage, rückgängig zu machen, wenn sie gegen das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen verstießen. Abgesehen gäbe es in Oberschlesien keine nationalistischen Unruhen. Hier seien lediglich in den Industriegebieten – wie auch in denen des benachbarten Kongresspolen – spartakistische Agitatoren aktiv, die die Arbeiter aufwiegelten.