Christa Pöppelmann > November 1918 > Montag, der 1. Dezember 1919
Montag, der 1. Dezember 1919
In Osteuropa herrscht Krieg, in Berlin Wohnungsnot. Das führt dazu, dass die Schöneberger Stadtverordnetenversammlung einen Antrag, der den Magistrat von Groß-Berlin ersucht, bei der Nationalversammlung auf ein Gesetz zu drängen, das den Zuzug von unerwünschten Ausländern unterbindet, wirksamere Grenzkontrollen beschließt und „die Abschiebung lästiger Ausländer besser als bisher erreicht.“
Denn ein Erlass der preußischen Regierung vom 1. November gestattet die Abschiebung nur, wenn jemand wegen Verbrechen oder erheblichen Vergehen rechtskräftig verurteilt ist oder wenn sich eine anerkannte Hilfsorganisation seiner annimmt.
Die Unerwünschten sind rund 70.000 Russen, dazu vor allem Polen und Galizier. Sie werden allgemein als unnützes Gesindel oder gar Schieber und Diebe diffamiert. Auch das Berliner Tageblatt veröffentlicht eine Erklärung des Direktors des Berliner Wohnungsamtes, in dem dieser sich beklagt, dass der Zuzug von 40 oder 50 Familien aus Polen und Galizien täglich den Wohnungsmarkt überstrapaziere, viele der Zugewanderten illegal kämen, als Schieber arbeiteten und zudem lungenkrank seien, Krätze hätten oder an anderen ansteckenden Krankheiten leiden würden. Er drängt darauf, die Zuwanderer entweder in der Landwirtschaft oder im Bergbau zu beschäftigen oder in Lagern zu internieren und sowohl ihre Gesundheit wie ihr „geschäftliches und politisches Gebaren“ zu kontrollieren.
Auch der Antisemitismus wird durch die Zuwanderung befeuert, da die rechten Kreise und ihre Presse die Osteuropäer pauschal zu Ostjuden erklären. Dagegen wehrt sich u. a. das Berliner Tageblatt mit einem Artikel von „unterrichteter Seite“: Die Zuwanderer seien vor allem deutschstämmige Russen, Wolgarussen, Balten und Lodzer, die vor den veränderten politischen Verhältnissen fliehen. Nur etwa 10.000 bis 15.000 der Neuankömmlinge seien Juden. Davor habe die kaiserliche Regierung jedoch während des Krieges Tausende von jüdischen Arbeitern aus dem Osten zwangsweise nach Deutschland deportiert. Nach Kriegsende hätte es nur unzureichende Versuche gegeben, diesen Menschen neue Perspektiven zu verschaffen. Der jüdische Sozialpolitiker Paul Nathan schreibt: „Allein die große Anzahl besteht aus Schneidern, Schuhmachern, Mützenmachern, Lodzscher Fabrikarbeitern aus Webereien und Spinnereien, die ihr Brot erarbeiten wollen und die nicht in Deutschland zu bleiben gedenken, sondern die zu ihren Verwandten nach den Vereinigten Staaten wollen, sobald nur die Grenzen geöffnet sind. Für diese arbeitsbereiten und arbeitswilligen Leute haben die jüdischen Fürsorgekomittees die Garantie übernommen, sie fallen nicht den Kommunen und nicht dem Staate zur Last. … Um die Hetze in ihrer ganzen moralischen Herrlichkeite zu erfassen, mag noch eine Tatsache erwähnt werden: Als die deutschen Heere in Polen einmarschierten, da erließen unsere Kommandostellen eine Proklamation an die russischen und polnischen Juden, in der es hieß: Die Deutschen kämen auch als Befreier der Juden; die Juden mögen sic hdne Deutschen anschließen und mit ihnen für die Befreiung des Landes wirken.“ Daraufhin seien viele Hunderte von Juden aufgehängt und Zehntausende deportiert worden. Nun aber trieben die „deutschen Befreier“ jene, die schon einmal Opfer ihrer Politik geworden seien, diese wieder ihren Peinigern in die Arme. Doch jene, die für alle Schäden im Inneren die Parteien verantwortlich machten, „die von Juden beherrscht sind“, bräuchten „da es nun in Deutschland nicht ein Prozent Juden unter den mehr als sechzig Millionen einwohnern gibt“ die fingierte „Überschwemmung aus dem Osten“, um diese Beherrschung glaubhaft zu machen. „Man denke sich, einer unter Hundert“, spottet Nathan, „welche Gefahr! Und wenn die Antisemiten bisher singen, ‘am deutschen Wesen soll die Welt genesen‘, so sollten sie nunmehr verkünden: ‚Ein Jude unter hundert Germanen vernichtet den Staatsbau unserer Ahnen.‘“ Auch Albert Einstein meldet sich zu Wort und fordert einen differenzierten Blick und eine Perspektive für die Notleidenden.