Samstag, der 11. Januar 1919

Die Rückeroberung des Vorwärts steht auf der Tagesordnung. „Es war ein übler Regentag“, sagt Gustav Noske später. „Kein Mensch konnte wissen wie die Sache ausgehen wurde.“ Sie wird übel ausgehen, sehr übel; auch wenn die Regierung und ihre Anhänger am Abend triumphieren.

 

Der Entscheidungskampf beginnt am Morgen mit dem Aufmarsch des 560 Mann starken Regiments Potsdam, das Ende Dezember von Major Franz von Stephani, ebenfalls einem späteren NS-Mann, aus heimkehrenden Frontsoldaten gebildet worden war. Sie ziehen mit mit Feldhaubitzen, Kanonen und schweren Maschinengewehren in Berlin-Kreuzberg ein. Doch auch die Besatzer des Vorwärts verfügen über Marschinengwehre. Als die Potsdamer Truppen den offenen Belle-Alliance-Platz am Halleschen Tor queren, geraten sie unter heftigen Beschuss und müssen sich erst einmal zurückziehen. Später wird das Gerücht aufkommen, Rosa Luxemburg persönlich habe eines der Maschinengewehre bedient. Doch ein zweiter Versuch zum Redaktionsgebäude in der Lindenstraße vorzudringen, gelingt. Nach über einer Stunde Dauerbeschuss schicken die im Hintergebäude verbarrikadierten Besatzer sechs Männer, die statt einer weißen Fahne unbedrucktes Zeitungspapier schwenken und verhandeln wollen. Die Soldaten schicken einen mit der Forderung zurück, dass alle sich innerhalb von zehn Minuten bedingungslos zu ergeben hätten. Die anderen fünf werden verhaftet und in die nahe gelegene Kaserne der Garde-Dragoner gebracht. Dort werden sie zusammen mit zwei Gefangenen, die man schon früher gemacht hatte, brutal misshandelt und gelyncht. Die Aussagen unbeteiligter Soldaten, sowie die Verletzungen, die später an den Leichen festgestellt werden, sprechen von einem völlig enthemmten Gewaltexzess einiger Dutzend Soldaten, der wohl eher nicht angeordnet, aber durch aufhetzende Reden im Vorfeld quasi sanktioniert wurde. Zu den Hauptbeteiligten scheinen junge Offiziersschüler gehört zu haben.

In der Lindenstraße gehen unterdessen die Kämpfe weiter, weil die Besetzer nicht kapitulieren. Erst, nachdem die Angreifer im Hof einen Schuppen mit einem Flammenwerfer in Brand gesetzt haben, können sie im Schutz des dichten Qualms in das Gebäude eindringen. Nun geben die 390 Männer und Frauen, die sich noch im Gebäude befinden, auf. Auch sie werden misshandelt. Die Arbeiterin Hilde Steinbring, die die Soldaten in erster Erregung für Rosa Luxemburg halten, obwohl sie viel jünger ist, wird mit Gewehrkolben niedergeprügelt, mit Füßen getreten und unflätigst beschimpft. Auf dem Dragoner-Areal stellen Soldaten sie dann neben den Leichen der zuvor Ermordeten an die Wand. Während die einen sie mit einem Gewehr bedrohen, brüllen andere, dass Pulver für eine Parteihure zu schade sei und man sie in Stücke reißen werde. Major Stephani macht dem Ganzen schließlich ein Ende. Auch die anderen Gefangenen werden nicht getötet. Stephani behauptet hinterher, er habe in der Reichskanzlei angerufen und Noske gefragt, was er mit ihnen machen soll. Dieser habe befohlen „Alle erschießen“, was er jedoch verweigert haben will. Es gibt aber auch Zeugenberichte, die aussagen, Vorwärts-Chefredakteur Friedrich Stampfer, der die Stürmung seiner Redaktion auf Seiten der Angreifer miterlebte und hinterher mit in die Dragonerkaserne kam, habe die Erschießung der Frau verhindert und auch bei der Regierung angerufen und sie aufgefordert, alle Gefangenen unter Schutz zu stellen. Auf Seiten der angreifenden Soldaten haben sieben den Kampf um den Vorwärts nicht überlebt, elf weitere wurden verwundet.

 

Währenddessen zieht Gustav Noske an der Spitze von 3000 weiteren, kampfbereiten Soldaten in Berlin ein. Sie gehören zu einer Kieler Marinebrigade, der Gardekavallerieschützendivision und dem Freikorps Landesjäger, das Generalmajor Ludwig Maercker im Auftrag der OHL aus Freiwilligen seiner ehemaligen Division aufgestellt hat. Dieser Übermacht beugen sich nach und nach die Besetzer daer anderen Zeitungsredaktionen.

 

Harry Graf Kessler ist abends „im schmutzigen Regenwetter“ in der verdunkelten, beschossenen Leipziger Straße am nördlichen Rand des Zeitungsviertels unterwegs. „Die in der Dunkelheit gewaltiger ragenden toten Hausfassaden, die sich duckenden, ratlosen Menschen hinter den Strassenecken, an jeder Kreuzung ein kleines, dunkles, formloses Gewühl, vor dem die Leere der im Strichfeuer liegenden Querstraße wie ein Abgrund klafft, die trotzdem noch fahrenden vollkommen verdunkelten Straßenbahnen, von Zeit zu Zeit elektrische Funken sprühend, die wie ein Feuerwerk knisternd in die Nacht gehen und ein kurzes Nachspiel auf dem nassen, glänzenden Fahrdamm als Widerschein haben. Die Patrouillen ermuntern die verängstigten Menschen, die Strassenbahn als verhältnissmässig sicherstes Mittel, um fortzukommen, zu benutzen. Viele riskieren es aber nicht, bleiben in den Hausfluren kleben. Diese stumme Panik in der weglossen Nacht eines zum Kriegsschauplatz gewordenen Straßengewirrs gehört zu den phantastischsten Eindrücken der Revolutionszeit.“ Das Berliner Tageblatt versucht die Eindrücke in einer illustrierten Beilage einzufangen.

 

Doch noch ist der Alptraum nicht vorüber. Im großen Kongresssaal des Reichskanzlerpalais trifft Kessler auf eine bizarre Szenerie: „Im halbverdunkelten Riesensaal ein Heerlager: Soldaten zum Teil im Dienst an Maschinengewehren, zum Teil sozusagen biwakierend auf Teppichen für die Nacht eingerichtet. Alle gleich lässig und äußerlich verwahrlost; dazwischen die alten galonnierten oder befrackten Diener hin und her laufend.“

 

In Hamburg geben die Aufständischen ohne Blutvergießen auf, als es der SPD gelingt, eine Gegendemonstration auf die Beine zu stellen, die weit größer ist als die Menge der Rebellen.

 

Der Arbeiter- und Soldatenrat von Cuxhaven dagegen sagt sich von Hamburg los und ruft in der Stadt und dem Kreis die Sozialistische Republik Cuxhaven aus. Da die Regierung in Berlin vollständig versagt habe, treibe Deutschland der Anarchie entgegen, heißt es. Der Schritt geschehe „dem Gebot der Stunde gehorchend, der Verantwortung voll bewusst, die Ernährungs- und Wirtschaftsfragen für die gesamte Bevölkerung sicher zu stellen.“ Zu den ersten Maßnahmen gehört, alle Vorbereitungen für die Wahlen zur Nationalversammlung zu unterbinden.

 

In Essen werden die Büros des Kohlesyndikats und des Bergbaulichen Vereins besetzt. Der Landrichter Ernst Ruben, ein SPD-Mann, wird zum Volkskommissar für die Sozialisierung des Bergbaus ernannt. Erste Maßnahme ist eine allgemeine Lohn- und Preiskontrolle.

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