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Dienstag, der 5. November 1918
Kiel hat eine unruhige Nacht hinter sich – und erlebt einen nicht minder unruhigen Tag. Gerüchte schwirren durch die Stadt. Immer wieder wird geschossen. Lothar Popp nimmt in der Nacht kurzfristig Gouverneur Souchon als Geisel für den Fall, dass doch Truppen von außerhalb gerufen wurden. Bei Sonnenaufgang wird auf allen vor Anker liegenden Kriegsschiffen eine rote Flagge gehisst. Nur das Schiff König zieht zunächst die Kriegsflagge auf. Es kommt zum Kampf, bei dem ein Matrose und zwei Offiziere sterben. Nach ihnen werden die Nazis später zwei Zerstörer benennen. In der Innenstadt kommt es am frühen Nachmittag zu Schießereien, von denen man bis heute nicht so genau weiß, wie sie entstanden sind. Zehn Menschen sterben, 20 werden verwundet – das blutigste Ereignis während der ganzen Novemberrevolution. Der Bruder des Kaisers, Prinz Heinrich, Großadmiral und Generalinspektor der Marine, der im Kieler Schloss residiert, flieht in einem Auto mit roter Fahne. Am Abend wird Stadtkommandant Wilhelm Heine erschossen, als er sich seiner Festnahme widersetzt.
Im Gewerkschaftshaus wird unterdessen seit dem Vortag rund um die Uhr fieberhaft daran gearbeitet, dem Aufstand Strukturen und Ziel zu geben. Am frühen Morgen bildet sich aus Vertretern von SPD, USPD, Gewerkschaftlern und Vertrauensleuten der Betriebe ein Arbeiterrat, dessen Vorsitz der Gewerkschafter Gustav Garbe übernimmt. Der Rat beschließt, die Stadtverwaltung und den Oberpräsidenten für Schleswig-Holstein künftig durch Beigeordnete zu kontrollieren. Das Ernährungsamt wird direkt übernommen.
Ebenfalls noch in der Nacht sind zentrale Forderungen erarbeitet worden, die „14 Kieler Punkte“, die von den Räten in Kraft gesetzt werden. Sie zeigen wie stark der Aufstand noch von den Matrosen bestimmt ist. Sie lauten:
- Freilassung sämtlicher Inhaftierten und politischen Gefangenen.
- Vollständige Rede- und Pressefreiheit.
- Aufhebung der Briefzensur.
- Sachgemäße Behandlung der Mannschaften durch Vorgesetzte.
- Straffreie Rückkehr sämtlicher Kameraden an Bord und in die Kasernen.
- Die Ausfahrt der Flotte hat unter allen Umständen zu unterbleiben.
- Jegliche Schutzmaßnahmen mit Blutvergießen haben zu unterbleiben.
- Zurückziehung sämtlicher nicht zur Garnison gehöriger Truppen.
- Alle Maßnahmen zum Schutze des Privateigentums werden sofort vom Soldatenrat festgesetzt.
- Es gibt außer Dienst keine Vorgesetzten mehr.
- Unbeschränkte persönliche Freiheit jedes Mannes von Beendigung des Dienstes bis zum Beginn des nächsten Dienstes.
- Offiziere, die sich mit den Maßnahmen des jetzt bestehenden Soldatenrates einverstanden erklären, begrüßen wir in unserer Mitte. Alles Übrige hat ohne Anspruch auf Versorgung den Dienst zu quittieren.
- Jeder Angehörige des Soldatenrates ist von jeglichem Dienste zu befreien.
- Sämtliche in Zukunft zu treffenden Maßnahmen sind nur mit Zustimmung des Soldatenrates zu treffen.
Der Abgeordnete Haußmann, der am Abend nach Berlin zurückkehrt, empfiehlt auf einer spontan einberufenen Kabinettssitzung, die Forderungen der Matrosen anzunehmen. Der preußische Kriegsminister Schëuch und Ernst Ritter von Mann, der neue Chef des Reichsmarineamtes, dagegen drängen, ein Exempel zu statuieren, Kiel abzuriegeln und in der Stadt mit aller Härte vorzugehen. Ritter von Mann hat auch schon U-Boot-Kapitäne ausgewählt, um die Schiffe mit den Meuterern zu versenken. Doch auch Gustav Noske warnt telefonisch eindringlich vor Maßnahmen gegen die Aufständischen und drängt stattdessen auf eine Amnestie für alle Matrosen – und eine Abdankung des Kaisers.
In Hamburg platzen Abgesandte aus Kiel in eine Massenveranstaltung, die die USPD am Abend im Gewerkschaftshaus veranstaltet. Unter großem Jubel kommt es zur Verbrüderung von Arbeitern und Soldaten. In der Nacht beginnt dann unter Führung des Maats Friedrich Zeller der Aufstand. Bewaffnete bemächtigen sich der im Hafen liegenden Torpedoboote und besetzen den Elbtunnel.
Und die Friedensgespräche? Ein Gerücht macht Hoffnung. Der Londoner Korrespondent der niederländischen Zeitung Nieuwe Courant meldet: „Ich erfahre, dass eine befriedigende Übereinstimmung in Versailles erzielt worden ist, und zwar auf die 14 Punkte. Die Bekanntmachung der Bedingungen des Waffenstillstandes kann jede Stunde erwartet werden.“
Letzteres ist tatsächlich zutreffend. Noch am selben Tag trifft ein Schreiben von US-Außenminister Lansing ein, das am nächsten Tag veröffentlicht wird. Präsident Wilson habe nun mit den Verbündeten gesprochen, heißt es darin, und die Entente-Regierungen bekunden ihre Bereitwilligkeit, „auf Grund der Bedingungen, die der Präsident in seiner Ansprache an den Kongress vom 8. Januar 1918 niedergelegt hat [also den 14 Punkten], und auf Grund der Prinzipien, die in seinen folgenden Botschaften zum Ausdruck kamen, mit der deutschen Regierung Frieden zu schließen.“ Das klingt hoffnungsvoll, doch es folgt gleich eine kalte Dusche. Zu diesen Prinzipien gehöre, dass die besetzten Gebiete nicht nur geräumt und befreit würden, sondern auch „wiederhergestellt“. Das bedeute, „dass Deutschland für jeglichen Schaden, welcher der Zivilbevölkerung der verbündeten Regierungen und ihrem Besitz durch den Angriff Deutschlands zu Lande, zu Wasser und aus der Luft zugefügt worden ist, Entschädigung leisten muss“. Außerdem wird ausgerechnet der französische Marschall Foch zum Vertreter der Alliierten ernannt, alles andere als ein Anhänger eines „Wilson“-Friedens.