Dienstag, der 12. November 1918

Die deutsche Presse feiert die „Erleichterung der Waffenstillstandsbedingungen“ – so klein sie sind – mit großen Schlagzeilen. Sie werden als erstes Zeichen gewertet, dass die Kriegsgegner bereit sind, Deutschland, jetzt, wo der Kaiser endlich abgedankt hat, Zugeständnisse zu machen. Die deutsche Regierung drängt US-Präsident Wilson dem Waffenstillstand möglichst schnell Friedensverhandlungen folgen zu lassen, wegen der drohenden Lebensmittelnot in Deutschland am besten erst einmal einen Präliminarfrieden anzustreben.

 

Flugblätter und Aushänge verkünden im ganzen Land die ersten Beschlüsse der neuen Regierung. In der Präambel wird betont, dass die aus der Revolution hervorgegangene Regierung rein sozialistisch sei und die Aufgabe habe, das sozialistische Programm zu verwirklichen. Konkret wird dann der Belagerungszustand aufgehoben und für alle politischen Straftaten Amnestie gewährt. Auch die Zensur wird abgeschafft und Versammlungsrecht, freie Meinungsäußerung und freie Religionsausübung ausdrücklich gewährt – auch für Beamte und Staatsdiener. Ferner werden der Vaterländische Hilfsdienst außer und die im Krieg aufgehobenen Arbeitsschutzmaßnahmen wieder in Kraft gesetzt. Die Landbevölkerung wird von der Gesindeordnung befreit, die dem Dienstherren Rechte gab, die nicht durch das Bürgerliche Gesetzbuch gedeckt waren. Für die Zukunft werden die Bekämpfung der Wohnungsnot, die Sicherung der Volksernährung und ausreichende Arbeitsgelegenheiten bei geordneten Produktionsverhältnissen angekündigt. Erwerbslose sollen unterstützt, Privateigentum geschützt und die maximale Arbeitszeit von acht Stunden am Tag spätestens zum 1. Januar 1919 eingeführt werden. Außerdem wird das neue Wahlrecht verkündet, das künftig für alle Wahlen zu öffentlichen Körperschaften in Deutschland zu gelten hat: ein gleiches, geheimes, direktes, allgemeines Verhältniswahlrecht. Wahlberechtigt sind alle Männer und Frauen ab 20 Jahren. Damit sind Deutschland und Österreich, das am selben Tag sein neues Wahlrecht verkündet, nach Finnland die ersten beiden Länder Europas und mit die ersten weltweit, in denen das Frauen wählen dürfen.

Eugen Schiffer, der von der Vorgängerregion übernommene, nationalliberale Staatsekretär im Schatzamt, erarbeitet aufbauend auf Vorschlägen aus dem Kaiserreich, die nie umgesetzt wurden, ein Finanzprogramm, dass die Kriegsgewinne abschöpfen und die einkommensbelastenden Steuern erheblich verschärfen soll, um möglichst sozial ausgleichende Staatseinnahmen zu kreieren.

Das Regieren in dem sechsköpfigen Gremium der „Volksbeauftragten“ erweist sich jedoch als ungleich schwieriger als die recht reibungslose Arbeit des Kabinetts von Baden. Während die führenden Politiker des Interfraktionellen Ausschusses bereits während der gemeinsamen Oppositionsarbeit ein respektvolles Miteinander gepflegt hatten, prallen nun die seit Krieg und Vorkriegszeit tief verfeindeten linken Lager gegeneinander. Die SPD-Führung misstraut der USPD und den Räten, die sie als verlängerten Arm des Spartakusbundes sieht, was jedoch größtenteils nicht stimmt. Sie arbeitet lieber mit den alten Verwaltungen zusammen, die weitgehend unverändert fortbestehen. Namentlich Ebert versucht ab Mitte November dem Vollzugsrat mehr und mehr Kompetenzen zu entziehen und das „Herum- und Hereinregieren der Räte“ zurückzudrängen. Wieder geht es mehr darum, möglichst schnell geordnete Verhältnisse herzustellen, als gesellschaftliche Umwälzungen zu erzielen. Außerdem gibt es zwar keinen Reichskanzler mehr, sehr wohl aber eine Reichskanzlei. Dort residiert Ebert und ihr Leiter Walter Simons, ein liberaler Jurist, der später zwar für einige Zeit Außenminister ist, aber nie in eine Partei eintreten wird, arbeitet ihm zu. Viele Informationen, die er an den SPD-Vorsitzenden weitergibt, erfahren die anderen Regierungsmitglieder nie. Auch die anderen Verwaltungen in Berlin kooperieren größtenteils mit der SPD, ignorieren dagegen USPD und Räte so gut es geht. Faktisch ist Ebert also „primus inter pares“ und sein Co-Vorsitzender Hugo Haase unternimmt auch keine ernsthaften Versuche, ihm diesen Rang streitig zu machen.

 

Im übrigen Deutschland ist es um den Einfluss der Räte unterschiedlich bestellt. Mancherorts beschränken sie sich darauf, die lokalen Stadtverwaltungen zu kontrollieren, anderswo lösen sie sie ab und übernehmen selbst die Regierung. Ihre Mitglieder sind in der Mehrheit Sozialdemokraten, die wie die Berliner Führung, nicht auf einen Umsturz der gesellschaftlichen Verhältnisse aus sind, sondern ihre Tätigkeit nur als Übergangslösung sehen bis ein neues Parlament gewählt wird, in dem aller Voraussicht nach die SPD die stärkste Fraktion sein und damit auch die Regierung stellen wird. Aber auch die Angehörigen der USPD sind keineswegs alle auf eine sozialistische Revolution aus. Vereinzelt sind auch „bürgerliche“ Kräfte, vor allem Anhänger der Fortschrittlichen Volkspartei, in den lokalen Arbeiterräten vertreten. In den Soldatenräten spielt die parteipolitische Bindung sowieso oft gar keine Rolle. Es geht nicht um linke Politik, sondern um ein Ende des Krieges und die Entmachtung des kaiserzeitlichen Militärapparats. Teilweise werden auch Offiziere gewählt. Im linken Flügel der USPD kommt deshalb das Gerücht auf, die „Scheidemänner“ hätten vor den Wahlen der Räte ihre Anhänger in die Kasernen geschmuggelt. Teilweise wird sogar eine „Säuberung“ der Soldatenräte gefordert.

Auf der anderen Seite gründen Bürger und Berufsgruppen, die sich nicht durch die Arbeiter- und Soldatenräte vertreten fühlen, eigene Räte, um ihre Interessen einzubringen. „Man überbietet sich allenthalben in Gründungen von allen möglichen Räten: Bauernräte, Bürgerräte, geistige Räte, Kunsträte, Theaterräte. Die deutsche Vereinsmeierei ist in die Arme der Revolution geflüchtet“, kommentiert der Mediävist Karl Hampe sarkastisch. Von all diesen Räten werden aber nur die Bauernräte teilweise in das politische System dieser Übergangszeit eingebunden.

Die Historikerin Ursula Büttner konstatiert, dass von den Räten insgesamt wenig konkrete Anstöße zur Veränderung der gesellschaftlichen Machtstrukturen ausgingen, obwohl man eine Demokratisierung von Verwaltung und Militär, sowie eine Sozialisierung der dafür reifen Industrien forderte. „Ihre wichtigsten Leistungen vollbrachten sie bei der Bewältigung der drängenden Tagesaufgaben: der Gewährleistung von Sicherheit und Ordnung und der Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln und Brennstoffen.“ Dabei hätten auch Räte mit einer linken Mehrheit, wie der Hamburger Arbeiter- und Soldatenrat – notwendigerweise – sehr gut mit den Repräsentanten des alten Staates und seiner Verwaltung zusammengearbeitet. Natürlich gab es auch Räte, die keinerlei politische Erfahrung hatten, spontan, willkürlich, naiv und manchmal auch eigennützig oder korrupt agierten, doch offenbar stellten sie die Ausnahme dar. „Wer heute die Bureaus einer militärischen oder zivilen Behörde betritt, findet dort auf den Sesseln der Autorität oft junge Leute, die eigentlich nur ein Zufall im Trubel des Revolutionstages dorthin geführt zu haben scheint“, schreibt Theodor Wolff im Berliner Tageblatt. „Er sieht manchmal den unvermeidlichen Mangel an Erfahrung, aber doch auch sehr viel ehrlichen Willen, Eifer, Anpassungsvermögen und Intelligenz.“

Insgesamt herrscht in der Bevölkerung großes Vertrauen, dass die Zeit der Arbeiter- und Soldatenräte und des Rates der Volksbeauftragten nur ein kurzes Zwischenspiel auf dem Weg zu Wahlen und einer verfassungsgebenden Nationalversammlung sein wird. Auch die angestrebten Sozialisierungen versetzen kaum jemand in Panik. Die Übergangsregierung, so die Überzeugung, wird sie nicht angehen, die demokratisch gewählte nicht mehrheitlich dafür sein.

All das führt dazu, dass nur drei Tage nach dem Höhepunkt der Revolution fast überall schon wieder Ruhe eingekehrt ist. Harry Graf Kessler notiert in seinem Tagebuch. „Die Revolution hat nie mehr als kleine Strudel im gewöhnlichen Leben der Stadt gebildet, das ruhig in seinen gewohnten Bahnen darum herumfloss … Die ungeheure, welterschütternde Umwälzung ist durch das Alltagsleben Berlins kaum anders als im Detektivfilm hindurchgeflitzt.“ Und in Leipzig schreibt Victor Klemperer: „Im Merkur klatschten gestern die Philister ihre Skatkarten auf den Tisch, wie im schönsten Alltag.“ Von der Revolution künden vor allem die allgegenwärtigen Autos mit bewaffneten Arbeitern und Soldaten, rote Fahnen und eine Unmenge von Anschlägen.

Allerdings bleibt eine große Angst vor der radikalen Linken bestehen, verkörpert durch die Namen Liebknecht und Luxemburg. So hält etwa Theodor Wolff seine Überzeugung fest, „dass die Spartakusleute und sehr viel Gesindel bewaffnet auf eine Gelegenheit zu putschen lauern.“

Angst herrscht auch in den deutschen Ostgebieten. Noch gehören PosenWestpreußen und Ostoberschlesien zu Deutschland, werden jedoch vom neu gegründeten Polen beansprucht. Gerüchte mehrtausendköpfige „Polenbanden“ bzw. Bolschewisten hätten sengend und plündernd die Grenze überschritten, versetzen die Bevölkerung vielerorts in

Die deutsche Regierung erklärt, dass keine Gefahr bestünde, zur Sicherheit aber die Aufstellung von Bürgerwehren beschlossen sei. Außerdem werde eine Kommission vor Ort geschickt, der sich auch die polnischstämmigen Reichstagsabgeordneten geführt von Wladislaus Seyda angeschlossen hätten. Diese versicherten, sie würden es auf keinen Fall zu Zusammenstößen zwischen Polen und deutschen Soldaten kommen lassen.

In Berlin herrscht aber auch die Sorge, dass die polnischstämmigen Räte im Osten dafür sorgen könnten, dass die Kartoffel- und Getreideernte nach Polen verkauft und Berlin „unrettbar der Hungersnot preisgegeben“ werden könte.

 

Divergierende territoriale Ansprüche gibt es auch in Böhmen. Die neugegründete Tschechoslowakei beansprucht auch die deutschsprachigen Berggebiete der Sudeten für sich. Deren Einwohner leisten jedoch Widerstand und verlangen gemäß Wilsons Doktrin vom Selbstbestimmungsrecht der Völker das Recht auf Eigenständigkeit bzw. einen Anschluss an das deutsche Reich. Die Tschechen dagegen beharren darauf, dass die Sudeten seit jeher Teil Böhmens waren, niemals der deutschen Krone unterstanden, sondern lediglich im Mittelalter auf Einladung der böhmischen Könige von deutschen deutschen Einwanderern besiedelt wurden. Im Berliner Tageblatt wirft Korrespondent Leonhard Adelt den Tschechen vor, sie würden im Norden gegenüber den Deutschböhmen mit der historischen Grenze – und gegen das Selbstbestimmungsrecht der Völker – argumentieren, im Süden gegen Ungarn (die Slowakei war seit dem 10. Jahrhundert Teil Ungarns gewesen) aber genau umgekehrt. „Ich bin ohne Vorurteil ins Land gekommen und habe an den guten Willen des jungen tschechischen Staates geglaubt. Aber es scheint, dass kein Volks aus seiner Geschichte lernt. Die Tschechen, die sich so lange unterdrückt gefühlt haben und befreit die Deutschen im Land ihrer nationalen Gleichberechtigung versicherten, wenden sich nun mit brutaler Gewalt gegen sie, weil sich Deutschböhmen nicht zu ihnen bekennt.“ Man versuche, die schreibt Korrespondent Leonhard Adelt, Tschechien versuche nun die sudetendeutschen Gebiete auszuhungern, was Deutschland unbedingt verhindern müsse. In den tschechischen Teilen Böhmens dagegen herrsche musterhafte Ordnung, jedermann sei ihm gegenüber außerordentlich höflich und gebe auch bereitwilligst auf Deutsch Auskunft.

 

Aber auch das Deutsche Reich pocht selbstverständlich sowohl auf das Anschlussrecht deutschsprachiger Gebiete wie den Erhalt seiner historischen Grenzen. Und anderswo läuft es nicht anders.

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