Samstag, der 21. Juni 1919

Auch Konteradmiral Ludwig von Reuter geht davon aus, dass die deutsche Regierung den Friedensvertrag von Versailles nicht annehmen und der Krieg folglich wieder ausbrechen wird. Zusammen mit einer Notbesatzung von 2300 Mann harrt er noch immer mit der deutschen Flotte in Scapa Flow auf. 2300 klingt viel. Aber da es im Januar Versuche kommunistisch gesinnter Matrosen gegeben hat, einzelne Schiffe in ihre Gewalt zu bringen und an Russland zu übergeben – unter anderem von Ernst Wollweber, dem späteren Stasi-Chef der DDR- hat Reuter die Besatzung so weit wie nur möglich reduziert und alle irgendwie verdächtigen Elemente nach Hause geschickt.

An die Engländer will Reuter die Schiffe aber auch nicht übergeben, schon gar nicht, wenn es wieder zum Krieg kommen sollte. Deshalb hat er bereits am 17. Juni seinen Offizieren den Befehl gegeben, in aller Heimlichkeit eine Versenkung der Schiffe vorzubereiten. Nun ist der ursprünglich letzte Tag des Ultimatums zur Unterzeichnung gekommen. Am Vormittag verlassen ebenfalls dort stationierte britische Kriegsschiffe den Hafen von Scapa Flow zu einem Manöver. Kurz danach gibt Reuter das Flaggenkommando. Die Matrosen öffnen die Seeventile ihrer Schiffe und verkeilen die Türen zwischen den wasserdichten Abteilungen. Dann flüchten sie auf die Rettungsboote. Ungläubig sehen die im Hafen verbliebenen Briten, wie sich um Viertel nach Zwölf das Schlachtschiff Friedrich der Große auf die Seite legt und in nur wenigen Minuten versinkt. Dann fällt ihnen auf, dass auch viele der anderen deutschen Schiffe Schlagseite haben und über allen die verbotene deutsche Kriegsfahne weht. Die Briten machen eilens einige Schlepper fertig und versuchen, um die angeschlagenen Schiffe in seichtes Wasser zu suchen. Auch schießen sie auf die deutschen Soldaten in ihren Rettungsbooten und versuchen sie, auf die sinkenden Schiffe zurückzutreiben. Das kostet acht Männern das Leben. Um 17 Uhr sind 66 Schiffe versunken. Viele nationalkonservativ gesonnene Deutschen feiern den Coup als Heldentat.

 

In Deutschland muss Reichspräsident Ebert eine neue Regierung bilden. Er drängt seinen engen Freund, den bisherigen Arbeitsminister Gustav Bauer, das Amt des Ministerpräsidenten zu übernehmen. Seinen Parteigenossen Hermann Müller macht er zum neuen Außenminister und Matthias Erzberger vom Zentrum, bisher Minister ohne Geschäftsbereich, zum Finanzminister. Die linksliberale DDP gehört dem Kabinett nicht mehr an, da sie die Unterzeichnung der Friedensbedingungen geschlossen ablehnt.

 

Immerhin hat Deutschland durch eine Verlängerung des Ultimatums zwei Tage mehr Zeit bekommen, um über den Vertrag zu entscheiden. Auch ohne die zu erwartenden Reparationsforderungen der Ententemächte hat das Deutsche Reich zu diesem Zeitpunkt schon 153 Euro Milliarden Schulden. Vor allem bei den eigenen Bürgern, die Kriegsanleihen gezeichnet haben. Viele frühere Steuerquellen wie die höchst lukrative Eisenbahn sind in einem desolaten Zustand, ein Großteil der Bevölkerung verarmt. Das Geld hatte etwa drei Viertel seines Wertes verloren. Während Arbeiter kriegswichtiger Betriebe dies teilweise durch Lohnsteigerungen ausgeglichen bekamen, war das bei den meisten Angestellten und Beamten nicht der Fall. Sie traf die Inflation mit voller Wucht.

 

Im Grunde wäre es nahegelegen, wenn der neue Finanzminister Erzberger den Staatsbankrott verkündet hätte. Stattdessen versucht er durch Reformen sowohl das Vertrauen der Finanzmärkte in die deutsche Wirtschaft zu stärken wie das der Bürger, dass ihre Kriegsanleihen eines Tages zurück gezahlt werden. Er hofft, damit die Inflation auf einem erträglichem Niveau zu handeln, was bekanntlich nicht gelang. 1923 stieg der Dollarkurs auf bis zu 4,2 Billiarden Mark und alle Geldvermögen, aber auch alle Schuldscheine wurden wertlos.

Erzbergers Reformen jedoch prägen das Steuersystem bis heute. Innerhalb von nur neun Monaten baut er eine leistungsfähige Steuerverwaltung auf. Den Beamten legte er auf, sich als Dienstleister an der Allgemeinheit zu sehen und „jederzeit in entgegenkommender Weise das Publikum kurz und klar über die Rechtsverhältnisse unterrichtet.“

Er krempelt die bisherigen Verhältnisse, nach denen die meisten Steuerrechte bei Ländern und Gemeinden lagen, die dann das Reich „alimentierten“ völlig um. Die wichtigsten Steuern werden nun vom Reich erhoben. Das bedeutet auch, dass sie erstmals deutschlandweit einheitlich sind, während vorher lokale Willkür und Steuerwettbewerb geherrscht haben. Sachsen-Coburg-Gotha hatte sogar zwei verschiedene Einkommensteuergesetze besessen, Oldenburg drei Erbschaftsgesetze. Dabei ist Erzberger eigentlich leidenschaftlicher Föderalist. Dass auch die Weimarer Verfassung föderal blieb, war ganz wesentlich ihm zu verdanken. Doch inzwischen ist er überzeugt, dass die Souveränität der Länder nicht zu Lasten eines starken Staates gehen darf. So hatte er bereits Anfang März seinen Rücktritt angedroht für den Fall, dass Militär und Eisenbahn Ländersache blieben und nicht in die Verantwortung des Reiches übergingen. Föderalismus hatte sich seiner Überzeugung nach in einem bunten Strauß von örtlichen Kulturen und Gepflogenheiten zu zeigen, nicht in regionalen Egoismen. Wichtig war ihm ein sozial gerechtes System, denn er lehnte Sozialismus vehement ab, war jedoch zutiefst davon überzeugt, dass Eigentum zu sozialen Verpflichtungen führte. Für ihn war der christliche Solidarismus ein dritter Weg zwischen Sozialismus und Kapitalismus. Um die Besteuerung sozial gerecht zu gestalten, versucht Erzberger möglichst viele direkte und wenig indirekte Steuern zu erheben, außerdem führt er Progression und Freibeträge ein, die Einkommensschwache, Kinderreiche und Bedürftige entlasten. Den Spitzensteuersatz dagegen erhöhte er um das 15fache, auf 60 Prozent. Zudem besteuert er erstmals in nennenswertem Umfang Geld- und Grundbesitz. Denn nicht mehr Besitz, sondern Arbeit soll in Zukunft das Ausschlag gebende Element des Wirtschaftsleben sein. „Die Steuerreform soll durch diese Vorbelastung des Besitzes den großen Gedanken zum Ausdruck bringen, das sein jeder, der schaffen und wirken kann, auch verpflichtet ist, an der Erneuerung des Wirtschaftslebens und des Volkswohlstandes tätig beizutragen, dass ein gemächliches Rentnerdasein unter den heutigen Umständen nicht mehr Raum hat.“ Mit dieser Haltung und der Courage, mit der er sich „an die großen Geldsäcke“ heranwagte, erlangt er auch die Zustimmung der SPD-Kollegen im Kabinett, deren Parteiprogramm eigentlich überhaupt keine indirekten Steuern vorsahen.

Freunde macht er sich damit wieder mal nicht. Und will es auch gar nicht, denn die Kriegsgewinne abzuschöpfen, ist sein erklärtes Ziel. Durch die allgemeine Wehrpflicht habe man die lebendigen Leiber mobil gemacht, aber Halt gemacht vor „dem Kapital und Besitz.“. Diese Ungerechtigkeit will er wenigstens nachträglich beseitigen. Vor allem Karl Helfferich, von Februar 1915 bis Mai 1916 Leiter des Reichsschatzamtes und hauptverantwortlich für die immense Verschuldung (und damit auch die spätere Inflation), den Erzberger öffentlich den schlechtesten aller Finanzminister nennt, wird ein unversöhnlicher Feind. Aber auch die einfache Bevölkerung sieht vielfach nur die steuerlichen Härten, denn die katastrophale Finanzsituation des Reiches erlaubt es nicht, auf die Besteuerung von Kohlen und Lebensmitteln zu verzichten, obgleich Erzberger es gerne getan hätte. So gelingt es den Rechten, Erzberger nicht nur als Hauptvertreter des „Dolchstoßes“ zu stilisieren, sondern auch als einen Kleptokraten, der „den deutschen Michel bis aufs Hemd ausnehmen“ wolle.

Ein weiteres Problem ist, dass die Reichsbank in konservativer Hand bleibt und es Erzberger deshalb nicht gelingt, neue Banknoten und Reichkassenscheine auszugeben, um die Kapitalflucht ins Ausland zu bekämpfen. Aber auch die Ministerkollegen verteidigten ihre Pfründe. Die Macht, den Haushalt der Regierung zu steuern und seine Einhaltung zu kontrollieren, räumten sie dem Finanzministerium noch nicht ein. Ein weiteres Problem: Nur Lohnempfänger werden im Voraus besteuert, Selbständige und Rentiers jedoch erst im Nachhinein, was sie dank der starken Inflation weit besser stellt.

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