Montag, der 8. März 1920

Vor dem Berliner Kammergericht erhält nun noch Matthias Erzberger die Gelegenheit, sich zu rechtfertigen. Er erklärt: „Ein typischer Vertreter der abgetanen autokratischen Buereaukratie und Plutokratie kämpft hier mit allen erdenklichen Mitteln gegen einen Vertreter der jungen und deutschen Demokratie, welche allein die Zukunft und Rettung des deutschen Volkes verbürgen kann. Der Kampf in diesem Saal war ein ungleicher. Ich stand unter meinem Eide, müsste über Erlebnisse der letzten 15 Jahre aussagen, durfte zu keinem so naheliegenden Gegenangriff ausholen und wurde fast täglich mit Materialen nicht immer zweifelsfreier Herkunft überfallen. Der Angeklagte sammelt seine Angriffe seit Jahren. Zahllose meiner politischen Gegner arbeiten für ihn. Ihn traf keine strafrechtliche Verantwortung für seine Behauptungen, mochten diese auch noch so sehr aus der Luft gegriffen sein. … Der Angeklagte hat den persönlichen Kampf in einer Weise geführt, dass ein Tollkopf unter Berufung die Helfferische Borschüre zur Mordwaffe griff, wobei mir Gottes Schutz offensichtlich zuteil wurde. Der Mordversuch – und das betone ich – bleibt für alle Zeiten an den Rockschössen des ehemaligen Vizekanzlers Helfferich als eine Folge seiner unverantwortlichen Kampfesweise hängen. Warum wird dieser Kampf gegen meine Person geführt? Man will die Demokratie treffen und die ruhige Entwicklung nach aufwärtzs aufhalten. Die heutige Regierung soll beseitigt werden. Der Reaktion will man die Wege ebnen unbekümmert um die sicheren und unabwendbaren Folgen eines blutigen, schrecklichen Bürgerkrieges und des völligen Zusammenbruchs des deutschen Landes. Dieselbe politische Blindheit, die von 1914 bis 1918 als Militärdiktatur regierte, hält die Zeit für gekommen, durch meine politische Ausschaltung das Volk von neuem zu beherrschen und zu knechten … In den erregten Julitagen 1917 versuchte ich, dem deutschen Volk die Binde von den Augen zu reißen, um es sehend vor dem Untergang zu retten. Die um den Angeklagten gesammelte Machtgruppe handelte nach dem Grundsatz: Die Sonne scheint nicht, wenn man die Augen schließt.“ Es sei dann gekommen, wie es kommen musste. Zum „Leidensgang von Compiègne“ habe er sich nicht gedrängt, aber nach enfänglichem Sträuben gefügt. Erzberger verliest die Depeschen mit den Anweisungen von Hindenburg und Ebert vor, denen er damals folgte. Als er zurückgekommen sei, sei die Revolution ausgebrochen gewesen. „Wo ist damals, so frage ich heute, der starke Mann, der Herr Angeklagte gewesen? Ich tat – unbekümmert um stete Lebensgefahr – meine Pflicht am deutschen Volk. Ich tat sie, um durch Erfüllung der grausam harten Bedingungen des Waffenstillstandes neue Leiden abzuwehren.“ Er habe sehr mit sich gerungen, ob er für die Annahme des Friedensvertrages eintreten solle, habe aber die Verantwortung für die Ablehnung nicht tragen können. „Der Feind wäre mit blutiger Waffengewalt eingerückt und hätte nach kurzer Frist mit den einzelnen deutschen Ländern dann einen Separatfrieden erzwungen. Damals stand mehr als je zuvor in der Geschichte unseres Volkes, alles auf dem Spiel. … Der furchtbare Mangel an Kohlen und Lebensmitteln hätte Deutschland restlos ruiniert. Und dann wäre uns ein noch schlechterer Frieden schließlich doch vom Gegner aufgezwungen worden. Ich wusste, dass infolge meiner Haltung die vergifteten Pfeile der Helfferich-Gruppe auf meine Brust gerichtet sein würden, und doch stellte ich mich offen und frei für den Friedensschluss auf.“ Selbstverständlich habe er gehofft, dass es am Ende doch noch zu einer Revision kommen werde und gerade jetzt mehrten sich von Tag zu Tag die Anzeichen, dass er recht habe. Danach verteidigt er seine Finanzreform. Er habe das ganze System auf eine neue Grundlage gestellt und damit etwas geschaffen, was die vorherigen Regierungen nicht geschafft hätten. Nach dem Friedenschluss habe er das Finanzministerium übernommen und seine Pläne „vor den berühmtesten Hochschullehrern für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft“ entrollt. Sie „erkannten die Großzügigkeit des Planes, hielten aber die Durchführung für kaum erreichbar. … Meine im Interesse des Vaterlandes notwendige und dabei sehr sozial ausgestaltete Steuergesetzgebung musste mir namentlich in den besitzenden Klassne, viele Feinde schaffen, das wusste ich. Den vergiftenden Hass kann ich allerdings nicht begreifen. Auch in der Steuerpolitik blieb ich Demokrat, christlicher Demokrat.“ Im Prozess habe man nahezu sein ganzes Leben durchwühlt. „Ich habe den Fehler aller anständigen Menschen: ich habe als Abgeordneter demjenigen, der mit mir sprach und meine Hilfe erbat, manchmal zu vertraut. Ich fürchte, dass ich diese beiden ‚Schattenseiten‘ als unveräußerlichen Teil meines Ich dereinst ins Grab nehmen werde, weil ich an der Menschheit nicht verzweifeln will.“ Unzählige Menschen hätten sich erboten, vor Gericht zu erscheinen „und zu bekunden, dass das, was hier über meine politische Tätigkeit erörtert wurde, nicht ein Zehntel Promille meiner gesamten Tätigkeit darstellt und darum ein ganzes Bild meiner Persönlichkeit nicht gibt, sondern eine Fratze, ein Zerrbild. Die Prozessführung lässt dies nicht zu; aber deshalb bleibt es doch wahr, dass seit Jahren ‚der überlaufendste aller Abgeordneten‘ ich bin. … Ich habe, wie ich unter meinem Eide aussagte, wiederholt Anerbieten für Aufsichtsratsstellen abgelehnt; ich hätte, ohne mich einem berechtigten Angriff auszusetzen, Hunderttausende und Millionen verdienen können, wenn ich gewollt hätte; ich habe es abgelehnt und mir auf die ehrlichste Weise durch wirkliche Arbeit, nicht unter Ausnutzung meiner parlamentarischen Stellung, ein ganz bescheidenes Vermögen verdient … Was ich während des Krieges mehr erworben habe, steuere ich auch mir durch die von mir verabschiedeten Gesetze größtenteils weg. Wenn ich das Finanzministerium verlasse, bin ich ärmer, als ich es betreten habe.“ Bis 1918 aber sei er ein freier Abgeordneter gewesen und müsse danach beurteilt werden. Was er getan habe, etwa in Aufsichtsräten gesessen, hätten auch zahllose andere Abgeordnete getan und zwar zu weit höheren Bezügen. „Was ich als Aufsichtstrat und Schiedsrichter lernte, habe ich immer wieder der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt, da gerade die eigene Erfahrung die wertvollsten Unterstützungen bei der parlamentarischen Arbeit wurden. Derartiges lernt man nicht aus den Akten und auch nicht an einem grünen Tisch.“ Er fordert Hellfferich auf, ihm einen Mann, eine Frau in Deutschland zu nennen, die an ihn geschrieben hätten und deren Gesuch unbeantwortet geblieben wäre. Den Tausenden und Abertausenden von Fällen einfacher Leute, stehe nicht ein halbes Dutzend von Fällen entgegen, in denen er aus der gleichen Hilfsbereitschaft und den gleichen aktiven Interesse heraus, teils lächerlich geringe Summen in Unternehmen investiert habe. Nichts davon habe – im Gegensatz zu vielen Abgeordneten der Rechten – seine Aktivitäten im Reichtstag berührt und außerdem habe sich das Ganze unter der Herrschaft des alten Regimes zugetragen. Wenn der Angeklagte daran etwas zu kritiseren habe, dann klage er sich selber an, da die meisten der behandelten Fälle seine Amtszeit und sein Ressort betroffen hätten. Wenn der Oberstaatsanwalt meine, der Prozess habe seine, Erzbergers Verquickung von Politik und Geschäft erwiesen, dann sei er weltfremd. „Gerade durch wirtschaftliche Kriegsmaßnahmen – namentlich des Angeklagten – wurde in einem nie gekannten Maße Politik und Geschäft miteinander verquickt, und diese Verquickung geradezu organisiert. Nirmals ist in gleichem Umfang durch die Beteiligung der unmittelbar interessierten Geschäftskreise an den Kriegsgesellschaftne, denen die gewaltige wirtschaftliche Macht in die Hände gegeben wurde, eine solche Fülle von Gewissenskonflikten zwischen den eigenen und den Gemeininteress hervorgerufen worden.“ Er müsse schwere Vorwürfe gegen den Oberstaatsanwalt erheben. Dieser habe Entlastungszeugen völlig ignoriert, dafür – etwa bei der Frage, ob das Eintreten für die Thyssenwerke auch im allgemeinen Interesse – gelegen habe, sich auf einen „offenbar den Angeklagten befreundeten und dessen Gesinnung teilenden Zeugen“ gestützt habe, der zu dieser Sache überhaupt nichts habe sagen können. Erzberger kommt dann noch einmal auf Helfferich zurück und erklärt, dieser habe einst so gut wie er selbst gesehen, welche Gefahr vom U-Boot-Krieg und einem Kriegseintritt Amerikas aus ginge. Aber da diese Meinungen nicht opportun gewesen sei, habe er sie um der Karriere willen gewechselt. „Darum hat er im Januar 1917 mit derselben taschenspielerartigen Geschicklichkeit, mit dem er im Oktober 1916 die Zahlen gegen den Unterseebootkrieg drehte, dieselben Zahlen vor dem stauenden Reichstage für den Unterseeboot gedreht. … Er ist mit der ungeheuren Verantwortung vor dem deutschen Volke und der deutschen Geschichte belastet, dass er wider seine Überzeugungen seine Einsicht zugunsten der Macht gebeugt und seine Erkenntnis verdunkelt hat, um an der Macht und in der ihn beglückenden allerhöchsten Nähe zu bleiben.“

Helfferich entgegnet in seiner Erwiderung, Erzberger habe mal wieder seine Meisterschaft bewiesen, einen Streit, von einem Gebiet, das ihm nicht passt, auf ein anderes zu ziehen. Doch er, Helfferich, habe den Wahrheitsbeweis für seine Anschuldigungen bringen können. Im Juli 1917 hätten alle Zeichen auf Frieden gestanden. Der Feind sei drauf und dran gewesen, angesichts der deutschen U-Boot-Erfolge einzuknicken. Es sei nur noch darauf angekommen, eine Weile weiter keine Schwäche zu zeigen, da habe Erzberger mit seiner Friedensresolution alles durchkreuzt. „Ich habe damals mit allen Mitteln gegen diesen Wahnsinn angekümpft, ich habe die Leute angefleht, nicht alles kaputt zuschlagen, ich habe an Erzberger den Breif gerichtet, das war aber alles in den Wind gesprochen.“

Ernst Feder bemerkt im Berliner Tageblatt, dieser so eminent poltische Prozess sei bisher eminent unpolitisch geführt worden. Etwa, wenn man darüber diskutiert habe, ob Erzberger Bethmann Hollweg vor seinem Angriff gewarnt habe. „Aber seit wann in aller Welt ist es denn üblich, einen Minister oder Kanzler, der gestürzt werden soll, davon vorher feierlich zu verständigen?“ Oder wie ganz nebenbei klar geworden sei, dass ein Vertrauter der Obersten Heeresleitung sich vor Bethmann Hollwegs Sturz mit den Parteien besprochen habe, obwohl diese bisher behauptete, nichts mit der ganzen Sache zu tun zu haben. Erst die Reden der beiden Hauptkontrahenten hätten den politischen Charakter offenbart – und gleich wieder verschleiert. Denn in Wahrheit gehe es Helfferich nur darum, den Sieg des linken Flügels des Zentrums über den rechten, den Sieg Erzbergers über Spahn im Juli 1917 rückgängig zu machen, um die jetzige Regierungskoalition zu sprengen.

 

Hinter den Kulissen jedoch bahnt sich ein ganz anderer Angriff gegen die Demokratie an. Herbert von Berger, der preußische Staatskommissar für die Überwachung der öffentlichen Ordnung legt Ebert und Noske einen Stimmungsbericht vor, der auf Gärungen innerhalb der Reichswehr hinweist. Diese sind kein Geheimnis. Gemäß dem Versailler Vertrag muss das deutsche Militär bis zum Juli auf 100.000 Mann reduziert werden. Außerdem fordern die Alliierten die Auflösung der Freikorps, die von der Reichswehr als „geheime Reserve“ gepäppelt werden. Derzeit hat Deutschland – die Freikorps inklusive – jedoch noch 250.000 Soldaten. Und es gelingt der Regierung nicht, den Abbau so zu gestalten, dass die loyalen Kräfte bleiben. Stattdessen wird das Heer, je kleiner es wird, desto mehr zu einem Sammelbecken der Rechten. Der weitere Abbau bedeutet für viele von ihnen, die nichts anderes als Soldat gelernt haben und sich auch nichts anderes vorstellen können, -. auch jenseits aller Ideologie – ein existentielles Problem.

Auch von Berger selbst, obwohl hochrangiger preußischer Staatsbeamter, ist ein Beispiel dafür, dass die Regierung ihren Militärs nicht vertrauen kann. Seine Berichte sind bewusst verharmlosend und enthalten nur, was Noske und Ebert sowieso schon wissen.

In einem Brief an den schwedischen Ministerpräsidenten Branting schreibt Ebert in dieser Zeit: „So ungeheuerlich auch unsere Aufgabe ist, sie wäre halb so schwierig, wenn die Arbeiterschaft einig wäre. … Die Unabhängigen befinden sich in einem grausen Durcheinander und pendeln zwischen Rätediktatur und Demokratie hin und her. So müssen wir die demokratische Republik, für die wir jahrzehntelang gekämpft haben, nicht nur gegen rechts, sondern auch gegen links verteidigen. … Es ist nicht ausgeschlossen, dass uns eines Tages Putschisten von rechts und links in einheitlicher Front gegenüber stehen. … Leider ist es richtig, dass unsere Universitäten und höheren Schulen Brutstätten der Reaktion sind. Wenn die Revolution hier nicht durchgreifender und nachhaltiger wirkte, so ist das vor allem den Versailler Bedingungen .., zu verdanken. Die Misshandlung unserer nationalen Unabhängigkeit und die fortgesetzten sadistischen nationalen Demütigungen müssen die nationalistischen Leidenschaften aufpeitschen und der nationalistischen Demagogie den Erfolg unter der Jugend sichern. Die Versailler Bedingungen sind der größte Feind der deutschen Demokratie und der stärkste Antrieb für Kommunismus und Nationalismus.“ Über das Militär schreibt er: „Die Friedensbedingungen zwingen uns eine Söldnertruppe auf, die für jedes Staatswesen gefährlich ist. Jetzt gilt es vor allem, die offenkundig reaktionären Offiziere aus der Truppe zu entfernen. Beim begreiflichen Mangel an brauchbaren Offizieren ist das nicht leicht.“

Noske plant jedoch,  zumindest die beiden Marinebrigaden Ehrhardt und Loewenfeld, die besonders reaktionäre Führer haben, aufzulösen.

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