Dienstag, der 11. November 1919

Vor einem Jahr ging der Krieg zu Ende. In den deutschen Zeitungen gibt es kaum eine Erwähnung. Im britischen Besatzungsgebiet am Rhein steht jedoch um 11 Uhr der gesamte Straßenbahnverkehr für zwei Minuten still. Außerdem gibt es in Köln eine Parade der britischen Truppen zu Ehren ihrer gefallenen Kameraden.

 

Der Osteuropa-Korrespondent des Berliner Tageblattes, Hans Vorst, ist in Prag unterwegs und schildert einen vermeintlichen Gaukler-Aufzug auf dem Wenzelsplatz. „Aus dem ungesunden Sumpfboden des Nationalitätenhaders, der Teuerung und Arbeitslosigkeit steigen gelegentlich seltsam schillernde, giftige Blasen auf …Geleitet wurde der Zug von beiden Seiten durc h eine große Anzahl von Zettelverteilern. … Ich ließ mir solch ein Flugblatt geben und erstaunte vollends, als ich erkannte, dass es poltischen Charakters sei. In tschechischer Sprache wurde da eine heftige Htze gegen Deutsche und Juden entfaltet. … Das Flugblatt, unterschrieben von den ‚Hussitischen Frauen‘, hatte für den folgenden Tag zu einem Meeting aufgerufen, auf dem gegen die Korruption und Fremdherrschaft in der tschechoslowakischen Republik protestiert werden sollte. Die Republik sei bedroht. Der ‚Tatitschek‘ (Väterchen) Masaryk sitze in der Burg gefangen und sei aller Macht entblößt. In der Tschechoslowakei wirtschaften deutschjüdische Zentralen mit Hilfe deutschjüdischen Kapitals, die wichtigsten Ministerien seien in den Händen von deutsch-österreichischen Offizieren oder von deutschen Juden.“ Vorst erzählt weiter, die Menge sei dann mit Musik zum Hradschin gezogen, um Masaryk zu „befreien“, der sich das jedoch streng verbat. „Die Regierung suchte die Volksstimmung auf eine andere Fährte abzulenken, indem sie die ganze Sache als einen reaktionär-klerikalen Putsch des Adels hinstellte. Man verhaftete die Lokowitze und Nostize, musste sie aber bald wieder freilassen. Denn es hatte sich um nichts anders gehandelt, als um eine Äußerung jener unruhigen und chauvinistischen Stimmung, die in Böhmen an der Tagesordnung ist. Mit nationalistischen Parolen findet jeder Schreier leicht seine Anhängerschar, und die allgemeine Unzufriedenheit mit Wucher, Teuerung und Arbeitslosigkeit führt ihm neue Massen zu.“

Gleichzeitig, so erzählt Vorst, seien seine persönlichen Begegnungen mit Tschechen in der Regel äußerst positiv – auch wenn er, wovor oft gewarnt wird, deutsch spreche. Und auch vielen Tschechen sei die nationalistische Hetze ein Dorn im Auge. Vorst meint deshalb, dass die Wogen, nicht ganz so tief gingen, wie man bei oberflächlicher Betrachtung glauben kann, und äußert die Hoffnung, dass weise Staatskunst, sie müsste glätten können. Außerdem sei die Erfahrung, einen eigenen Staat zu haben noch ganz neu. Vorst zitiert einen Prager Kollegen: „Österreichischer Staatsbürger zu sein, lernte naturgemäß niemand, das war einem lächerlich und widerwärtig, und man hielt es geradezu für ein nationales Heldentum, ein schlechter Staatsbürger zu sein, Wo sollen wir jetzt plötzlich bürgerliche Tugenden hernehmen?“

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