Dienstag, der 22. April 1919

In München wird geflaggt. Am Morgen paradieren die Arbeiter-Bataillone durch die Stadt, am Abend um 17 Uhr gibt es einen allgemeinen Demonstrationszug. Es sei noch einmal ein großes Volksfest gewesen, hält Victor Klemperer fest, doch in den nächsten Tagen seien die Lebensmittel knapp geworden, die Plünderungen und Schießereien hätten zugenommen. „Und jetzt, da die Bürger zu merken begannen, dass das räterepublikanische Spiel, dem sie bisher halb apathisch, halb missmutig zugesehen hatten, für sie doch wohl Schlimmeres bedeuten konnte als nur eine wilde karnevalistische Veranstaltung, wie zeigten sie jetzt ihr Erwachen zum Widerstand? Durch spontanen Antisemitismus. Saujuden! schimpften einzelne vor den Maueranschlägen, Saujuden! brüllte manchmal ein kleiner Chor, und Flugblätter tauchten auf, die den Juden alle Schuld an der Räterepublik, an der Revolution überhaupt, an der Anzettelung des Krieges, an seinem unseligen Ausgang zuschrieben. Der Unterschied zwischen den Flugblättern und den auf der Straße geführten Reden bestand bloß darin, dass die Flugblätter die Juden allein für alles verantwortlich machten, während der bürgerliche Volksmund neben den Juden die Preußen nannte, und dies in so enger Gemeinschaft, dass Jud und Preiß oft wie Synonyma für dasselbe Prinzip des Bösen klangen.“

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