Dienstag, der 22. Oktober 1918

Um viertel nach zwei Uhr nachmittags beginnt die mit Spannung erwartete mehrtägige Sitzung des Reichstags. Kanzler Max von Baden appelliert, bevor er sich – weit intensiver – mit den innenpolitischen Reformen beschäftigt, an Wilsons Ideen von einem neuen Miteinander der Völker. Mit dem nationalen Egoismus, der bis vor kurzer Zeit die beherrschende Kraft im Leben der Völker gewesen sei, müsse es ein für allem Mal vorbei sein. Auch Deutschland müsse das Glück und Recht anderer Völker in seinen nationalen Willen aufnehmen. Doch es sei noch nicht klar, ob alle Nationen diesen Weg gehen wollen. Der deutsche Notenwechsel mit Wilson habe überall zu einem Kampf der Meinungen über die Frage „Rechtsfriede oder Gewaltfriede“ geführt. Deutschland müsse sich auf beide Möglichkeiten vorbereiten, „auf die, dass uns keine andere Wahl bleibe, als uns zur Wehr zu setzen, wie auf die, dass ein Frieden auf der Basis der Wilsonschen Bedingungen zustande kommt.“ Damit folgt er weiter dem eingeschlagenen Kurs, die Lage so darzustellen, als habe seine Regierung noch eine Wahl, obwohl die Front Tag für Tag mehr in Auflösung gerät.

In den nachfolgenden Reden geht der linksliberale Friedrich Naumann scharf mit der alten Politik ins Gericht und auch der nationalliberale Gustav Stresemann erklärt, „dass das System, das uns hierher führte, sein Recht verwirkt hat“. Das zu bekennen falle gerade ihm nicht leicht, da seine Partei den Parlamentarismus bekämpft habe. Aber die Politik „vor und während des Kriegs war ein einziger diplomatischer Fehler“ und schließlich habe man auch noch kriegstechnisch versagt. Jetzt brauche es eine Anspannung aller Kräfte, gerade auch die Einbeziehung der Arbeiterführer, für einen Wideraufbau des Reiches.

Dagegen hält sich SPD-Führer Friedrich Ebert relativ wenig mit der Vergangenheit auf, sondern fordert noch weiter reichende innere Reformen.

 

In der offiziösen Norddeutschen Allgemeinen Zeitung erscheint ein Bericht einer neutralen Kommission über die angeblichen Kriegsgräuel in Belgien. Ein spanischer und ein holländischer Diplomat sowie ein Beamter des belgischen Ernährungsamtes haben bei einem Besuch in den von deutschen Truppen geräumten belgischen Gebieten festgestellt, dass das Vorgehen der Deutschen in den Städten, denen Beschießung drohte, von Sorge um die Lage der Bevölkerung getragen gewesen sei, deren trauriges Los man soweit möglich zu mildern versucht habe. Die Entente-Mächte erkennen die Kommission jedoch nicht an. Das Journal de Genève fühlt sich zudem bemüßigt darauf hinzuweisen, dass der Spanier, der Gesandte Rodrigo de Villalobar, ein Freund des deutschen Gouverneurs in Belgien, Oscar von der Lancken-Wakenitz sei. Tatsächlich setzte sich Villalobar während der Kriegsjahre sehr engagiert für die belgische Zivilbevölkerung ein und benutzte dafür auch seinen guten Draht zu von der Lancken.

 

Am Abend bittet Kanzler Max von Baden den Journalisten Theodor Wolff zu einem Kennenlernen ins Reichskanzlerpalais. Zuerst reden sie über Stil. Der Prinz entschuldigt, dass die Note an Lansing im Ausdruck nicht gelungen sei. Sein eigener Entwurf sei als zu weich empfunden worden, dann hätten zu viele daran herumgedoktert. Er hoffe, seine Reichstagsrede sei besser. Wolff erwidert, die Form sei jetzt wichtig. Für einen Sieg könne man mit Bierbanktönen auskommen, Niederlagen müssten besser stilisiert werden. Im Laufe des Gesprächs kommen sie auf die Stimmung im Lande und  Wolff erklärt, dass seiner Auffassung nach der Kaiser unbedingt abdanken müsse. Das sei die Meinung in allen Kreisen, auch „bei sehr gesetzten, ruhigen Leuten“. Der Kanzler zeigt sich überrascht und gibt zu Bedenken, dass der Kronprinz noch weniger geeignet sei. Wolff meint, wenn es nicht anders ginge, wäre eine Regentschaft für den Enkel, den zwölfjährigen, ältesten Sohn des Kronprinzen, denkbar, eine Idee, mit der Max von Baden sich in den folgenden Tagen anfreundet. Als Regent schwebt ihm Prinz Eitel Friedrich vor, der zweitälteste Sohn Kaiser Wilhelms, ein eher schroffer Charakter, aber politisch bislang zurückhaltend und mit dem Renommee eines tapferen, fähigen Militärs. Auch andere möchten die Monarchie gerne erhalten, wissen aber nicht so recht wie. „Alle Kaisersöhne sind unmöglich“, vertraut etwa Matthias Erzberger einige Tage später dem  Bohémian Harry Graf Kessler an. „Der Prinz Heinrich [der Bruder Wilhelms II.] versoffen, der Prinz Friedrich Wilhelm [der älteste Sohn des Kronprinzen] zu jung und unbekannt.“

 

Währenddessen bahnt sich bei der Marine ein Komplott an: Die Chefs der Flotte sind keineswegs gewillt, kampflos aufzugeben. Bereits seit Anfang Oktober arbeitet die Seekriegsleitung rund um Reinhard Scheer, Adolf von Trotha und Magnus von Levetzow an einem streng geheimen Plan für ein letztes Gefecht. Mit einem massiven Überraschungsangriff soll die englische Blockade durchbrochen und London von der Themse her bombardiert werden, während gleichzeitig deutsche U-Boote in die Bucht von Scapa Flow auf den Orkney-Inseln eindringen und die dort liegende britische Flotte angreifen sollen. Mit diesem Coup, so die Berechnung, würde man den Signalschuss für eine allgemeine Erhebung Deutschlands geben und entweder einen günstigen Frieden erzwingen oder in Ehren untergehen. Wie wenig man aber mit einem Erfolg rechnet, zeigt der Eintrag im Kriegstagebuch vom nächsten Tag. „Wenn auch nicht zu erwarten ist, dass hierdurch der Lauf der Dinge eine entscheidende Wende erfährt, so ist es doch auch nach moralischen Gesichtspunkten Ehren- und Existenzfrage der Marine, im letzten Kampf ihr Äußerstes getan zu haben.“ Von einem Schutz der flandrischen Küste, mit dem Scheer im Nachherein argumentieren wird, ist im Vorfeld noch nicht die Rede.

Aber auch das Heer zieht noch einmal Soldaten ein: Der Jahrgang 1900, sowie Männer, die bisher wegen ihrer Tätigkeiten in kriegswichtigen Produktionen zurückgestellt waren, werden einberufen. Noch sei der Krieg nicht vorbei, wird der Öffentlichkeit erklärt und die abgekämpften Truppen, die derzeit die Front hielten, bräuchten dringend Ablösung.

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