Christa Pöppelmann > November 1918 > Dienstag, der 23. Dezember 1919
Dienstag, der 23. Dezember 1919
Der Weihnachtsreiseverkehr führt allerorts zu einem Ansturm auf die Bahnhöfe. In Berlin sammeln sich die Menschen von viele Stunden vor der Abfahrt der Züge vor den Sperren, um noch einen Sitzplatz zu ergattern. Fahrkarten nach Breslau, Hamburg, Bad Harzburg, Magdeburg, Dresden, Köln und Frankfurt am Main werden überhaupt nicht mehr verkauft. Aber auch andere Züge sind ausnahmslos überfüllt.
In Paris wird um mögliche Kompromisse hinsichtlich der deutschen Kompensationen für die versenkte Flotte in Scapa Flow gerungen. Der Oberste Rat der Alliierten erklärt in einer weiteren Note auf, dass das Schlusssprotokoll zur Durchführung der Friedensbestimmungen des Versailler Vertrages von Deutschland in der vorliegenden Form unterzeichnet werden müsse, dass man aber parallel dazu eine Komission nach Deutschland senden werde. Falls diese zu dem Schluss komme, dass die Ablieferung von 400.000 Tonnen Hafenmaterial für die deutsche Wirtschaft nicht zu verkraften sei, sei man bereit, die Forderung auf 300.000 Tonnen oder sogar weniger herabzusetzen.
Das Berliner Tageblatt druckt einen Leserbrief aus dem liberalen Manchester Guardian nach. Darin schreibt ein John W. Graham Southport, die Versenkung der Flotte habe einen Streit mit Paris vermieden, da England die Schiffe – gegen die Wünsche von Paris – sowieso habe vernichten wollen. „Diesen Zwischenfall benutzt man lediglich, um für eine ungemessene Zeit den deutschen Handel zu ruinieren. Ohne Bagger verschlammen die Flußläufe, ohne Krannen können keine Güter verladen werden. Es scheint, dass unsere regierenden Personen nicht begreifen, dass diese Häfen mindestens ebenso von englischen Schiffen benutzt werden wie von den deutschen, jetzt sogar mehr. Wenn man Hamburg zerstört, zerstört man Hull. Wenn in der Elbe Schilf wächst, wächst es auch im Humber.“
Der USPD-Zeitung Die Freiheit ist ein geheimer Militärbericht zugespielt worden. Ein Generalleutnant hat ihn am 31. Oktober 1918 an das kaiserliche Militärkabinett geschickt. Als Beginn des deutschen Rückzugs werden darin der 1. August 1918 und vor allem die Niederlage bei Amiens am 8. August genannt. „Diesen vereinten Anstrengungen der Gegner, unterstützt von frischen amerikanischen und englischen Truppen, konnten unsere seit Frühjahr unaufhörlich in schweren Kämpfen stehenden abgekämpften, verbrauchten Mannschaften nicht mehr Stand halten. Schlag auf Schlag erfolgte, Verlust auf Verlust wurde unabwendbar in Ermangelung von Reserven. Die offene Frage des Waffenstillstandes wird von Tag zu Tag dringender.“ – „Hier wird also mit keinem Wort gesagt, dass die Heimat für die andauernden Niederlagen an der Front verantwortlich sei“, kommentiert Die Freiheit den Bericht, den viele andere Zeitungen nachdrucken. „Das deutsche Heer ist also nicht zusammengebrochen, weil es die Heimat nicht mehr stützte. Sondern es ist regelrecht geschlagen wordne, weil seine Führer, allen voran Hindenburg und Ludendorff, zu unfähig waren, die Stärke der Gegner richtig einzuschätzen und die bedrohte Lage der eigenen Truppen rechtzeitig zu erkennen.“