Christa Pöppelmann > Uncategorized > Dienstag, der 6. Januar 1920
Dienstag, der 6. Januar 1920
Die deutsche Delegation hat sich mit dem Obersten Rat der Alliierten hinsichtlich der Kompensationen für Scapa Flow geeignet. Deutschland verpflichtet sich, 192.000 Tonnen schwimmenden Materials sofort zu übergeben. Über die Verhältnismäßigkeit der weiteren ursprünglich geforderten 208.000 Tonnen wird eine alliierte Kommission später entscheiden. Nachdem dieses Hindernis ausgeräumt ist, soll die Unterzeichnung des Schlussprotokolls zum Friedensvertrag am 10. Januar vormittags erfolgen.
Unterdessen wird der Westen Deutschlands von einem weitgehenden Streik der Eisenbahner getroffen. Die Streikenden fordern eine deutliche Erhöhung der Teuerungszulage. Die Arbeitsniederlegung trifft vor allem die großen Industriebetriebe an Rhein und Ruhr, da keine Güterzüge mehr ent- und beladen werden.
Politisch sei in Deutschland bereits ein neuer Baugrund geschaffen, meint Tageblatt-Redakteur Erich Dombrowski, wirtschaftlich stecke man noch mitten in Krieg und Revolution. „Im Augenblick machen wir wieder einmal eine Krise durch, weil die Spannung zwischen Löhnen und Gehältern einerseits und der rapide wachsenden preisteigerung andererseits unerträglich geworden ist. Eine Flut neuer Streiks ist im Anzuge. Regierung und Unternehmertum haben alle Hände voll zu tun, um schützende Dämme dagegen aufzureichten. Tarifverhandlungen sind allerorts im Gange. Aber die Tarifkräfte, wie man sie auch festsetzt, werden nur für eine Weile Geltung haben. Dann wird die kolossale Blutentziehung, die die unzähligen neuen Steuern an dem deutschen Wirtschaftskörper vornehmen, abermals eine folgenschwere Verschiebung des Preisniveaus nach oben hervorrufen.“
Dombrowskis Kollege Felix Pinner sieht noch einen ganz anderen Grund für die steigenden Preise, vornehmlich im Handel, nicht der Industrie. Denn die Regierung hat wiederholt dazu aufgerufen, angesichts der fallenden Währung den „nationalen Ausverkauf“ zu stoppen. Tatsächlich sind deutsche Gewerbetreibende dazu übergegangen, Ausländern die vom Preisverfall der Mark profitieren wollen, höhere Preise berechnen. „Jedes Ding hat aber im menschlichen, wirtschaftlichen Leben seine Kehrseite“, schreibt Pinner im Berliner Tageblatt, und die Kehrseite bestand in diesem vorliegenden Falle darin, dass die gesamte zünftige und unzünftige Kaufmannschaft von einem neuen ‚Furor des Dickverdienens‘ erfasst wurde, der naturgemäss nicht ohne Rückwirkung auf das Inlandsgeschäft bleiben konnte. Wer im Export große Gewinne erzielen kann, will sich natürlich im Inlandsverkauf nicht mehr mit bescheidenem Nutzen begnüghen. Seine Maßstäbe werden eben anders, und er vernachlässigt entweder den mageren Inlandsabsatz zugunsten des fetteren Auslandsabsatzes, oder aber er sucht im Inlandsgeschäft seine Verdienste der Export-Konjuktur anzupassen. Gerade der Handel aht auf diese Weise in den letzten Monaten mühleos gewaltige Gewinne eingeheimst, denn seine Preisstellung ließ sich viel schwerer kontrollieren als in der Industrie.“