Dienstag, der 8. Oktober 1918

Von der Front werden andauernde schwere Kämpfe gemeldet. Die deutschen Truppen müssen sich aus Cambrai zurückziehen.

 

Im Berliner Tageblatt analysiert Generalleutnant a. D. Armand Leon von Ardenne (Vorbild für Theodor Fontanes Baron von Instetten in Effi Briest und Großvater des Physikers Manfred von Ardenne), die militärische Lage. Er äußert Verständnis, dass das stete Zurückweichen für die allgemeine Moral verheerend sei. Es handele sich jedoch nur um ein taktisches Manöver, bis man die richtigen Stellungen für einen Entscheidungskampf erreicht habe. Nach allen Berichten würden sich die Truppen glänzend schlagen. Noch stehe man tief im Feindesland und eine Ermattung der Gegner könne nicht ausbleiben, namentlich der Winter werde die breite Masse ihrer Kolonialtruppen zu einer mehrmonatigen Ruhe zwingen. Die Lage sei zwar sehr ernst, gebe aber keine Veranlassung für einen Ausblick in eine trübe Zukunft.

 

Vor allem aber wartet man in Deutschland fieberhaft auf eine Antwort aus Washington, von der man ausgeht, dass sie nur eine Sache von einigen Tagen sein könne. Akribisch werden die Kommentare ausländischer Zeitungen und Politiker zur deutschen Friedensoffensive verfolgt. Neben viel Misstrauen, dass es sich nur um ein taktisches Manöver handle, keimt auch Hoffnung auf Frieden auf. Teilweise wird von Deutschland nur gefordert, auf Wilsons 14 Punkte einzugehen. Andere Kommentatoren jedoch bestehen darauf, Friedensverhandlungen könne es nur nach einer bedingungslosen, vollständigen Kapitulation und der Räumung der besetzten Gebiete geben. Dies führt bei einem Teil der deutschen Presse dazu, dass mit militärischer Vergeltung gedroht wird, wenn Deutschland kein ehrenhaftes Friedensangebot erhalte.

 

Eine der ersten Taten der neuen Regierung ist eine Amnestie, unter die auch Karl Liebknecht fällt. Der Sohn von SPD-Gründer Wilhelm Liebknecht hatte vor dem Krieg als Anwalt gearbeitet und war 1907 wegen einer Schrift gegen den Militarismus wegen Hochverrats zu eineinhalb Jahren Festungshaft verurteilt worden. Einen Ausschluss aus der Anwaltschaft lehnte der Reichsgerichtspräsident jedoch ab, da keine ehrlose Gesinnung Liebknechts vorgelegen habe. Noch während seiner Haft wurde er ins preußische Abgeordnetenhaus und 1912 auch in den Reichstag gewählt. Der Kriegsausbruch hatte auch ihn unerwartet getroffen. Am 4. August 1914 beugte er sich protestierend der zuvor gerade von ihm immer wieder beschworenen Fraktionsdisziplin und trug die Bewilligung der Kriegskredite mit. Danach schloss er sich der von Rosa Luxemburg gegründeten Gruppe Internationale an, die die Kriegsgegner in der SPD zu sammeln versuchte. Einen ersten Eklat verursachte er, als er sich während der deutschen Offensive in Belgien mit dortigen Genossen traf und über die Ausschreitungen der deutschen Militärs informieren ließ, einen zweiten, als er am 2. Dezember 1914 als einziger Abgeordneter seine Zustimmung zu den Kriegskrediten verweigerte. Die Rache folgte auf dem Fuß. 1915 wurde er als Armierungssoldat einberufen, obwohl er als Abgeordneter eigentlich politische Immunität genoss – ein klarer Rechtverstoß, vor dem ihn seine Partei nicht zu bewahren suchte. Im Gegenteil: Viele waren nur zu froh, ihn los zu sein. Einer, der wenigen, die eine Lanze für Liebknecht zu brechen suchten, war Parteichef Hugo Haase. Bei weiten Teilen der Arbeiterschaft dagegen war die Haltung gegenüber dem Krieg viel kritischer als bei der SPD-Führung und Liebknecht zur Symbolfigur für den Widerstand geworden. Als er am 1. Mai 1916 nach einer Rede auf dem Potsdamer Platz verhaftet wurde, konnten die Revolutionären Obleute, weit links stehende unabhängige Betriebsräte, einen eintägigen Streik und eine Solidaritätsdemonstration von über 50.000 Arbeitern organisieren. Liebknecht aber wurde trotzdem zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt. Seiner Beliebtheit tat das keinen Abbruch. Sogar viele Soldaten verehrten ihn. Sein Parteigenosse Karl Kautsky bezeichnete ihn im August 1916 als den „populärsten Mann in den Schützengräben.“

 

Doch Ebert und Scheidemann fürchten die Radikalität des einstigen Genossen so sehr, dass sie nun überlegen, die Zuchthaus- nur in eine mildere Gefängnis- oder Festungshaftstrafe umzuwandeln. Doch wieder unterschätzten sie Liebknechts enormes Renommee bei den einfachen Arbeitern. Überall gibt es Demos gegen die Regierung und für die Freilassung Liebknechts. Schließlich meint Scheidemann, Liebknecht wäre im Gefängnis gefährlicher als draußen, und plädiert für seine Freilassung, um ihn nicht zum Märtyrer zu machen.

 

Nach der Novemberrevolution werden das Ebert- und das Liebknecht-Lager einander Verrat vorwerfen, doch im Grunde bleibt jeder sich treu. Denn die mächtige Vorkriegs-SPD mit ihren 1,1 Millionen Mitgliedern war bei näherem Hinsehen ein Scheinriese, unter deren Dach sich Menschen mit unvereinbaren politischen Ansichten zusammengefunden hatten, vereint nur in dem Bestreben die Diskriminierung der Arbeiterschaft im alten Feudalsystem zu beenden – und bis August 1913 durch den charismatischen Übervater August Bebel zusammengehalten. Programmatisch jedoch lebte man mit einer fundmentalen Lüge. Theoretisch waren das marxistische Programm und das Ziel einer Revolution der gesellschaftlichen Verhältnisse beibehalten worden. In der Praxis hatten sie jedoch kaum eine Rolle gespielt. Als Antipoden für die verschiedenen Lager werden meist die Marxistin Rosa Luxemburg und Eduard Bernstein genannt, der einen vergeblichen Versuch unternommen hatte, das marxistische Parteiprogramm zu revidieren. Erhellender für die internen Konflikte der SPD ist jedoch ein Blick auf Friedrich Ebert.

Der Handwerkersohn aus Heidelberg war trotz guter Schulnoten nur Sattlergeselle geworden, weil sich seine Familie eine höhere Bildung für ihre Kinder schlichtweg nicht leisten konnte. Zur SPD war er über sein gewerkschaftliches Engagement gekommen und widmete sich mit extrem viel Engagement und Akribie der praktischen Sozialpolitik. Ihm ging es nie um Theorien, sondern darum ganz konkret die Lebensverhältnisse der kleinen Leute zu verbessern. Mit bloßem Volksschulabschluss fuchste er sich in Gesetze, Verordnungen etc. und erstellte fundierte Studien über die Lage der Arbeiter. Er engagierte sich für bessere Bildungschancen, dem Kampf gegen die unzureichenden Wohnverhältnisse der Proletarier, ihrer Absicherung gegen Arbeitslosigkeit, Krankheit und Erwerbsunfähigkeit im Alter usw. Erfolge auf diesem Gebiet ließen sich seiner Meinung nach nicht durch Revolutionen, sondern nur durch viele kleine Schritte, Kompromisse und Kooperation mit den Herrschenden erreichen. Marxist und Revolutionär war er nie gewesen. Ein marxistisches Klassenbewusstsein ging ihm völlig ab. Immer wieder hatte er an seine Genossen plädiert, die theoretischen Streitigkeiten zu vergessen und sich den praktischen Problemen zu widmen.

Nach Berlin kam er nicht als Reichstagsabgeordneter sondern als Parteisekretär. Doch in dieser Funktion prägte er die Strukturen der SPD. Er galt als loyal und integrierend. Als er 1912 doch noch in den Reichstag kam, sprach er selten, wenn dann meist zu Themen ohne große Brisanz, aber immer sehr fundiert, faktenreich und sachlich.

 

Das alte System hielt für die SPD, obwohl seit 1890 stets stärkste Partei, jedoch nur die Oppositionsrolle bereit. Der Kriegsausbruch 1914 nötigte sie dann zum Agieren und prompt taten sich die vorhandenen Sollbruchstellen auf. Das Gros der Genossen ließ sich – wie die deutsche Bevölkerung überhaupt – von der Regierung überzeugen, die Aggression sei von Russen und Franzosen ausgegangen, die noch vor den deutschen Kriegserklärungen angegriffen hätten. Als sich die Abgeordneten der SPD am 3. August zu einer Lagebesprechung trafen, trat – zur Überraschung der meisten Beteiligten – die Mehrheit vehement dafür ein, das „Burgfrieden“-Angebot der Regierung zu akzeptieren. 96 Befürwortern standen nur 14 Gegner gegenüber. Auch in den Monaten danach glaubten die meisten Genossen, sich angesichts der Bedrohung von außen vorbildlich vaterlandstreu verhalten zu müssen. Die wenigen Abweichler, die auch angesichts eines realen Krieges auf die Einhaltung der pazifistischen Parteitagsbeschlüsse der Vorkriegszeit zu bestehen wagten, traf heftige Ablehnung. Prominentes Gesicht dieses Widerstands war Karl Liebknecht. Der hatte inzwischen die Ereignisse der letzten Julitage kritischer unter die Lupe genommen und war zu der Auffassung gekommen, dass Deutschland mitnichten überfallen worden war. „Es liegt ein großer deutsch-österreichischer Präventiv- und Angriffskrieg vor“, schrieb er Ende Oktober 1914 an den Parteivorstand. Der jedoch reagierte nicht und so votierte Liebknecht am 2. Dezember 1914 im Reichstag erstmals gegen die Bewilligung weiterer Kriegskredite. Die Parteirechte um den Lehrer und Journalisten Eduard David forderte daraufhin vehement seinen Ausschluss. Doch die Vorsitzenden  Ebert und Hugo Haase wollten die Partei zusammenhalten. Während Ebert jedoch ein unbedingter Anhänger des Burgfriedens war, hatte Haase am 3. August dagegen gestimmt. Der aus einfachen Verhältnissen stammende Sohn eines jüdischen Schuhmachers hatte Jura studiert und sich bereits vor dem Krieg als entschiedener Gegner von Aufrüstung und Militarismus profiliert. Die großen Friedenskundgebungen vom 28. Juli 1914 waren vor allem sein Werk gewesen. Zu Kriegsbeginn unterwarf er sich widerstrebend der Fraktionsdisziplin und verlas als Parteivorsitzender sogar eine von den Burgfriedens-Befürwortern verfasste Note, dass man das Vaterland in der Stunde der Gefahr nicht im Stich lasse. Im März 1915 konnte Haase jedoch eine weitere Zustimmung zu den Kriegsanleihen nicht mehr mit seinem Gewissen vereinbaren. Zusammen mit 29 anderen Abgeordneten verließ er während der Abstimmung den Saal. Im Juni verfasste er dann zusammen mit seinem Freund Karl Kautsky und Eduard Bernstein ein Manifest, das in der Leipziger Volkszeitung erschien. Darin geißelten die drei Partei-Promis die expansionistischen deutschen Kriegsziele, forderten von ihrer Partei eine entschiedene Opposition dagegen und von der Regierung Friedensverhandlungen. Der Artikel führte zum Bruch mit Ebert. Er plädierte dafür, Haase als Partei- und Fraktionsvorsitzenden abzusetzen. Philipp Scheidemann, der zweite Fraktionsvorsitzende, der ebenfalls bestrebt war, die Partei zusammen zu halten, notierte in seinem Tagebuch „Ebert behandelt ihn direkt brutal“. Obwohl – oder vielleicht gerade weil das Lager der Kriegsgegner stetig wuchs – gestand die Mehrheit Haase keine Redezeit im Parlament mehr zu. Als er sich am 24. März 1916 im Reichstag gegen die Annahme eines Notetats aussprach, dem die Mehrheit seiner Partei zustimmen wollte, kam es zum öffentlichen Eklat. Er wurde niedergebrüllt und bekam das Rederecht entzogen – mit den Stimmen seiner eigenen Fraktion. Einen Tag später nötigten ihn die übrigen Vorstandsmitglieder, den Parteivorsitz niederzulegen und schlossen ihn und die anderen Kriegsgegner aus der Fraktion aus. Diese organisierten sich daraufhin in einer Sozialdemokratischen Arbeitsgemeinschaft (SAG). Auf einer Partei-Konferenz am 21. September in Berlin, die den Konflikt lösen sollten, prallten die Welten dann so richtig gegeneinander. Man beschimpfte sich gegenseitig als „Dreckseelen“, Halunken und Verräter. Die Kriegsgegner warfen den Burgfrieden-Politikern vor, Sozialimperialisten geworden zu sein, diese wiederum behaupteten, die anderen würden Deutschland in einem aufgezwungenen Verteidigungskrieg Schaden zufügen.

Es gab jedoch noch eine dritte Fraktion. Denn wäre es nach Rosa Luxemburg gegangen, hätte ihre Partei nicht nur die Zustimmung zu den Kriegskrediten verweigert, sondern bereits in den Tagen vor Kriegsbeginn landesweite Massenstreiks organisiert, um der Regierung klar zu machen, dass sie nicht den nötigen Rückhalt in der Bevölkerung für einen Krieg habe. Maßlos enttäuscht von ihrer Partei und kurze Zeit wohl sogar an Selbstmord denkend, hatte sie dann am Abend des 4. August 1914 einige Mitstreiter, darunter Wilhelm Pieck und Franz Mehring, eingeladen und mit ihnen die Gruppe Internationale gegründet. Deren erklärtes Ziel war, die SPD doch noch zum aktiven Kampf gegen den Krieg zu bewegen und die Solidarität der europäischen Arbeiterparteien wiederherzustellen. In einem Artikel vom 30. Oktober 1914 in der Zeitung Berner Tagwacht distanzierte sie sich ganz offiziell von der SPD-Führung. Von den deutschen SPD-Abgeordneten traten Karl Liebknecht und Otto Rühle in die Gruppe ein, außerdem die prominente Clara Zetkin und ganze Ortsgruppen wie etwa in Charlottenburg und Mariendorf. Ab 1916 publizierte die Gruppe die sogenannten Spartakusbriefe, weshalb sich auch der Name Spartakusgruppe für sie einbürgerte.

Mit ihnen trafen sich Vertreter der SAG im Januar 1917. Die SPD-Parteiführung reagierte mit einem Parteiausschluss für alle SAG-Mitglieder. Hugo Haase, der immer noch an der parteilichen Einheit hing, hätte es gerne bei der Organisation der Rebellen in der SAG belassen. Doch Karl Kautsky und andere befürchteten, dass dann die radikale Spartakusgruppe die Führung der Opposition an sich reißen würde. Also gab Haase nach. Im April 1917 gründeten die SAG-Rebellen zusammen mit den Spartakus-Leuten die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands, die USPD. Jenseits ihrer Ablehnung des Krieges gab es jedoch auch unter ihnen wenig Gemeinsamkeit, was sich schon daran zeigt, dass sowohl Rosa Luxemburg wie Eduard Bernstein der neuen Partei angehörten.

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