Donnerstag, der 24. Oktober 1918

Erbittert debattiert wird im Reichstag auch die Nationalitätenfrage. Die Vertreter von Polen, Elsässern und Dänen fordern gemäß Wilsons Punkte nationale Selbstbestimmung. Adalbert Korfanty, schlesischer Journalist und Abgeordneter der Polnischen Nationaldemokratischen Partei, erklärt mit Berufung auf die 14 Punkte, dass die „unbestreitbar von einer polnischen Bevölkerung bewohnten Gebiete“ Deutschlands an einen künftigen polnischen Staat fallen sollen. Damit erhebt er nicht nur Anspruch auf die Gebiete, die sich deutsche Monarchen angefangen mit Friedrich dem Großen bei den sogenannten Teilungen Polens unter den Nagel gerissen hatten, sondern auch auf Oberschlesien, das bereits im späten Mittelalter an Böhmen und über Böhmen und Österreich an Deutschland gefallen war und mit seinem Kohlenrevier rund um Kattowitz einen erheblichen Teil der deutschen Montanindustrie beherbergt. Der Geistliche Anton Stychel dagegen betont, dass auch Gebiete, in denen es keine polnische Bevölkerungsmehrheit mehr gibt, früher aber gegeben hat, an den künftigen polnischen Staat fallen müssen.

Viele deutschstämmige Abgeordnete, darunter auch Vertreter linker Parteien wie der überaus temperamentvolle USPD-ler Georg Ledebour, weisen diese Ansprüche scharf zurück. Es kommt sogar zu einer Prügelei, als der antisemitische Abgeordnete Ferdinand Werner, der spätere NS-Ministerpräsident von Hessen, die polnischen Abgeordneten beleidigt. Außenamts-Chef Solf versichert, dass die Regierung die Regelung des künftigen Status von Polen und Elsass-Lothringen den Friedensverhandlungen überlassen werde, wie man überhaupt das Wilsonsche Programm nach allen Richtungen hin und in allen Punkten loyal und im Sinne voller Gerechtigkeit und Billigkeit erfüllen werde. Aber Wilsons Forderung, durch ein Selbstbestimmungsrecht der Völker künftige Konflikte auszuräumen, könne eben nicht bedeuten, dass „z.B. Danzig, eine Stadt mit 2 bis 3 Prozent polnischer Bevölkerung für das künftige Polen beansprucht“ werde.

Die Debatte gibt einen Vorgeschmack, auf die Verwerfungen, zu denen die Parole vom „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ in den folgenden Jahren in Osteuropa führen wird. Nahezu alle Nationen reklamieren sowohl von der eigenen sprachlich-kulturellen Volksgruppe bewohnte Gebiete für sich, pochen andererseits aber auch auf die Gültigkeit historischer Grenzen. Das dies nicht zu einem friedlichen Ausgleich führen kann, liegt auf der Hand. Einer, der nicht allzu viel vom Selbstbestimmungsrecht der Völker hält, sondern für politischen Pragmatismus plädiert, ist Georg Gothein. Da Osteuropa eine sehr gemischte Bevölkerung aufweist, sollten dort seiner Meinung nach besser keine National-, sondern Nationalitätenstaaten wie die Schweiz anvisiert werden. Was die polnischen Provinzen Deutschlands angeht, findet er, dass diese sich unter preußischer Ägide wirtschaftlich kräftig entwickelt hätten und jegliche neue Grenzen ökonomisch von übel seien, weshalb auch für die polnischen Bewohner ein Verbleib bei Deutschland von Vorteil sei. Die preußische Drangsalierung müsse natürlich beendet und volle Kulturautonomie gewährt werden. Auch würde so die jüdische Bevölkerung vor dem polnischen Nationalismus geschützt. „Für jeden Juden in der deutschen Ostmark ist es ein fürchterlicher Gedanke wieder zu Polen zu kommen.“ Dem ehemaligen Russisch-Polen empfiehlt er eine Union mit Litauen und Kurland, die allein ob ihrer Größe kaum lebensfähig sein.

 

Die Entscheidung über die Abtretung deutscher Gebiete liegt jedoch nicht beim deutschen Parlament, sondern beim Kriegsgegner. Und aus Washington ist eine neue Antwort eingetroffen. Die Note beginnt konzilianter als die letzte und erkennt sowohl den Politikwechsel in Deutschland, als auch die Absicht, Kriegsverbrechen der deutschen Streitkräfte verhindern zu wollen, an. Präsident Wilson habe deshalb die verbündeten Regierungen über den Notenwechsel informiert und angefragt, ob sie geneigt seien, der deutschen Regierung Bedingungen für einen Waffenstillstand zu unterbreiten. Erwartet wird aber die bedingungslose Kapitulation: „Die Annahme dieser Waffenstillstandsbedingungen durch Deutschland wird den besten konkreten Beweis dafür bilden, dass es die Bedingungen und Grundsätze des Friedens annimmt.“ Außerdem lässt man durchblicken, dass man „außerordentliche Sicherheiten“ verlangen müsse, da allein der Regierungswechsel noch keine Garantie sei, dass die alten Kräfte nicht doch wieder das Ruder ergreifen und den Krieg fortsetzen. „Wenn mit den militärischen Beherrschern und monarchischen Autokraten Deutschlands jetzt verhandelt werden muss, kann und muss es nur die Aussicht haben, dass wir später auch mit ihnen bei der Regelung der internationalen Verpflichtungen des Deutschen Reiches zu tun haben werden“, heißt es zum Schluss. „Dann kann Deutschland über keine Friedensbedingungen verhandeln, sondern muss sich ergeben.“ Für die Anhänger der neuen Regierung klingt das hoffnungsvoll. Schließlich wird im Umkehrschluss in Aussicht gestellt, dass Deutschland nach dem Sturz des Kaisers und der Militärführer bei den Friedensverhandlungen mitreden darf.

 

Auf einer spontan einberufenen Sitzung des Kabinetts fordert Außenamtchef Solf deshalb seine Kollegen auf, als Zeichen, dass die „militärischen Beherrscher“ Deutschlands tatsächlich entmachtet würden, Ludendorff zu entlassen. Teile der Regierung fürchten jedoch, dass dann auch Hindenburg seinen Abschied nimmt und es zu einem unkontrollierbaren Machtvakuum an der Spitze der Armee kommen könnte. Deshalb wird die Angelegenheit vorerst vertagt.

Unterdessen schickt Ludendorff jedoch, seinen Kontaktmann in Berlin, Hans von Haeften, zu Kanzler Max von Baden, der krank im Bett liegt, und fordert einen Abbruch der Verhandlungen. Als ihm das verweigert wird, beschließt er zusammen mit Hindenburg unverzüglich nach Berlin zu reisen. Zuvor verbreitet er jedoch noch eine von Hindenburg gezeichnete Aufforderung an alle Truppen, den Kampf fortzusetzen. Darin heißt es, Wilson sage in seiner Antwort, der Waffenstillstand müsse Deutschland militärisch so wehrlos machen, dass es die Waffen nicht mehr aufnehmen könne. Über einen Frieden würde er mit Deutschland nur verhandeln, wenn dies sich den Forderungen der Verbündeten völlig füge. „Wilsons Antwort kann daher für uns Soldaten nur die Aufforderung sein, den Widerstand mit äußersten Kräften fortzusetzen. Wenn die Feinde erkennen werden, dass die deutsche Front mit allen Opfern nicht zu durchbrechen ist, werden sie zu einem Frieden bereit sein, der Deutschlands Zukunft gerade für die breiten Schichten des Volkes sichert.“ Die neue Regierung aber habe bisher alles unterlassen, um „alle Kräfte des gesamten Volkes in den Dienst der vaterländischen Verteidigung“ zu sammeln.

Tatsächlich jedoch ist das deutsche Heer auf dem Rückzug und die meisten Soldaten versuchen nur noch bis zum endgültigen Waffenstillstand zu überleben, bzw. desertieren in großer Zahl.

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