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Freitag, der 22. November 1918
Eigentlich schienen die revolutionären Unruhen vorbei. Doch nachts um ein Uhr tauchen plötzlich rund tausend Menschen vor dem Berliner Polizeipräsidium auf und fordern die Herausgabe der politischen Gefangenen. Polizeipräsident Emil Eichhorn von der USPD versichert, die gäbe es seit Beginn der Revolution nicht mehr und auch die zwei Matrosen von der Schlosswache, nach denen im Besonderen verlangt wird, seien längst wieder entlassen worden. Ein ankommendes Auto voller Matrosen sorgt jedoch für Unruhe, aus der Menge wird geschossen und ein Wachsoldat tödlich getroffen. Daraufhin presst die Menge alle Inhaftierten frei. Später teilt die Polizei mit, unter den Befreiten wären vier Menschen gewesen, die nicht auf Anordnung der Kommandantur in Gewahrsam waren, die übrigen 45 seien Diebe, Plünderer und Erpresser. Die Presse berichtet, ein Matrose hätte während einer Liebknecht-Versammlung von der Festnahme seiner Kameraden berichtet und so die Aktion veranlasst.
In München fordert Ministerpräsident Eisner gegenüber einem Journalisten der Frankfurter Zeitung,
von der Berliner Regierung, alle Akten zur Vorgeschichte des Krieges veröffentlichen. Entgegen einem späteren Mythos ist er nicht der erste und einzige. Sogar die extrem nationalistische Deutsche Zeitung hat solch eine Forderung schon erhoben – in der felsenfesten Gewissheit deutscher Unschuld. Auch Eisner meint, dass „die ganze Schwere der Verantwortung“ bei einem verhältnismäßig kleinem Kreis aus Militärs, Schwerindustrie und Alldeutschen zu suchen sei. Die bayerische Obrigkeit nimmt er in Schutz. Hier seien alle leitenden Stellen vom Kriegsausbruch völlig überrascht worden.
Von der Front kommen erste Berichte, dass deutsche Regimenter von den Franzosen gefangen genommen werden, da sie sich noch in Regionen befinden, die laut Waffenstillstandstandsbedingung schon geräumt hätten sein sollen. Bei Schlettstadt soll es sogar vorzeitige Gefangennahmen gegeben haben. Außerdem würden auch transportunfähige Kranke und Verwundete zu Gefangenen gemacht.
Aus der Provinz Posen, wo Gerüchte über „polnische Banden“ kursierten, gibt Hellmut von Gerlach, Unterstaatsekretär im Auswärtigen Amt, Entwarnung. Dem Wollfschen Telegraphenbureau sagt er, die Situation sei günstiger als in der Presse berichtet. Es habe Ausschreitungen gegeben, die jedoch nirgends bedrohlichen Charakter angenommen oder länger gedauert hätten. Das Misstrauen der Polen gegenüber den Deutschen aber sei „unleugbar groß“.
Eine Kälteeinbruch mit Nachttemperaturen von -4 (Berlin) und -9 Grad (Bromberg), lässt die Sorge aufkommen, dass ein großer Teil der Kartoffelernte verloren gehen könne. Laut Ernährungsstaatssekretär Emanuel Wurm sind noch Millionen von Zentnern in der Erde, da die als Arbeitskräfte eingesetzten Kriegsgefangenen mit dem Waffenstillstand die Arbeit eingestellt hätten.