Freitag, der 27. Februar 1920

Martin Feuchtwanger, der jüngere Bruder des Schriftstellers Lion Feuchtwanger, vergleicht den Hunger, den er als Kriegsgefangener in Frankreich erlebt hat, mit dem der deutschen Bevölkerung. Frankreich sei ein Wechsel zwischen bohrendem Hunger und Zeiten, in denen man sich um weggeworfene Kartoffelschalen gestritten habe, mit solchen, wo es genug, ja zuviel, gegeben habe. „Oft haben wir in der Gefangenschaft von den Seehunden und Fischreihern in den zoologischen Gärten gesprochen. Wie sie den Wärtern entgegenheulen und die Fische verschlingen – ruck, zuck – , als ständen sie vor dem Hungertod. War es mit uns anders? … Der Hunger in Deutschland aber ist ein anderer. Ein ständiger rastloser Hunger. Nie oder fast nie, dass er so groß war, dass die Arbeit ruhen musste, dass die Füße zu schwach waren zum Gehen. Er hat sich so langsam eingeschlichen, so verstohlen heimtückisch, dass es niemand merken konnte … Ich habe viele von meinen Freunden und Bekannten nach der Rückkehr aus der vierjährigen Gefangenschaft nicht mehr erkannt. Die Züge sind scharf geworden, der Körper schmal, die Augen matt. Es fehlt an Festigkeit, an die Stelle von Temperament sind aufwallende Wut und ungerechter Jähzorn getreten. Und das Traurigste ist, sie wissen nicht, wie schlecht es ihnen geht. Nimmt man Sie beiseite und spricht vertraulich mit ihnen, erzählt man ihnen von unserem Hunger, dem Hunger der Kriegsgefangenen, … so gestehen sie: Gewiss haben wir auch zu leiden gehabt, aber so schlecht ist es uns nicht gegangen. … Ich habe in den ersten Tagen nach meiner Rückkehr nur ‚Festessen‘ gemacht. Man sah den Gastgebern an, wie begeistert sie waren, dass sie ein gebratenes Hähnchen, einige Schnitzel, ein paar Apfelsinen, ein Glas Kompott auf den Tisch bringen konnten. … Das arme Hähnchen war in so viele winzige Portiönchen zerlegt. Und die Portiönchen waren genau abgezählt. Und fast sah es aus, als seien sogar die einzelnen Kirschen abgezählt. … Wenn wir in Frankreich von dem verbissenen Streit der Millionen gegeneinander hörten und lasen, dann waren wir entrüstet und konnten Deutschland nicht mehr verstehen. Heute verstehen wir es; der Hunger macht die Menschen klein.“

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