Mittwoch, der 31. Dezember 1919

Das erste Nachkriegsjahr geht zu Ende. Obwohl es wenig zu Lachen gibt, finden überall ausgelassene Partys statt. „Wenn der Sylvesterpunsch im Glase dampft und der Zeiger der Uhr unaufhaltsam der letzten Stunde im alten Jahre entgegenrückt, dann ist für den richtigen Berliner der Moment gekommen, um mit Scherz und Fröhlichkeit das verflossene Jahr abzutun und dem neuen zuzutrinken“, schreibt das Berliner Tageblatt. In Vorkriegszeiten habe eine rührige, größtenteils in Thüringen beheimatete Industrie für allerlei Scherzartikel gesorgt, dafür „dass ein jeder sein buntes Mützchen im geeigneten Augenblick zur Hand hatte. Außerdem mussten Masken aller Art und Radaugeräte vorhanden sein, um die Stimmung zu beleben.“ Doch die täglich wachsende sorge um die Zukunft, die knapp zugemessene Polizeistunde und der Mangel an Verkehrsmitteln würden die Entfaltung der Silvesterfeiern doch behindern.

 

Im Berliner Tageblatt schreibt der Schriftsteller Paul Block eine Anklageschrift gegen das abgelaufene Jahr: „‘Das Jahr 1919 war von Anfang bis zum Ende republikanisch. Es hat den monarchischen Gedanken gemordet‘, sagte der Konservative. ‚Das Jahr 1919 war ein Jahr wüster Reaktion. Est hat die Republik geschändet und verraten‘, sagte der Unabhängige. ‚Das Jahr 1919 hat unsere Wirtschaft ruiniert, unsere Arbeitskraft gelähmt, unser Kapital aufgefressen. Es war das Jahr der Streiks und der Verelendung‘, sagte der Arbeitgeber. ‚Das Jahr 1919 hat das Leben so verteuert, dass wir erfrieren und verhungern müssen. Es war ein Jahr für die Reichen und gegen die Armen‘, sagte der Arbeitnehmer. ‚Das Jahr 1919 untergrub die alten Stützen des Staates, das Heer und die Religion‘, sagte der alte Hofprediger. ‚Das Jahr 1919 bescherte uns Noske und Haenisch‘, sagte der junge Kommunist. ‚Das Jahr 1919 hat Deutschlands Tor für die Internationale geöffnet‘, sagte der Alldeutsche. ‚Das Jahr 1919 hat eine Mauer zwischen Deutschland und der Internationale errichtet‘, sagte der Bolschewist. ‚Das Jahr 1919 brachte einen Friedensvertrag ohne Frieden‘, sagte der Diplomat. ‚Das Jahr 1919 brachte Kämpfe ohne Krieg‘, sagte der Soldat. ‚Das Jahr 1919 hat uns verraten‘, rief einer von rechts und im Zuschauerraum erhob sich Beifall. ‚Nein! Uns hat das Jahr 1919 verraten!‘, schrie ein anderer von links, und wildes Händeklatschen und Gerempel zeigte, dass er viele Gesinnungsgenossen hatte. Und nun begann ein ungeheuerlicher Lärm. ‚Verräter!‘ ‚Feigling!‘ ‚Schieber!‘ ‚Massenmörder!‘ ‚Desserteur!‘ tobte es durcheinander. … Das Jahr 1919 aber verschmähte es, zu fliehen gleich einem Verbrecher. Es hatte den Menschen noch etwas zu sagen, bevor es die Erde verließ. … ‚Menschen!‘, sagte das Jahr 1919, und seine Stimme klang wie Glockenton. ‚Ich weiß, dass es eure Art ist, für das, was ihr getan oder erlitten habt, niemals euch selbst anzuklagen, sondern das Schicksal. … Weil aber das Volk der Erde gerade in meinem Zeichen, wenn auch durch seine eigene Schuld so namenslos unglücklich geworden ist, will ich mich eurer Unwissenheit erbarmen und euch vor meinem Scheiden zum Trost sagen, dass ich wenigstens euch Deutsche, obwohl ihr so jämmerlich auf dem Boden liegt, nicht ganz ohne Hoffnung zurücklasse. Weil ich jedem genommen und keinem gegeben habe, seid ihr alle so arm geworden, dass ihr nun gezwungen seid, einer dem anderen zu helfen, wenn ihr nicht alle sterben wollt … Weil eure Meinungen und Wünsche so hundertfältig auseinanderstreben, dass ihr untereinander niemals zum Frieden kommt, hab’ ich euch klargemacht, dass ihr verloren seid, wenn ihr nicht einig bleibt. Alles Elend, dass euch gedrückt hat, alle Schmerzen, unter denen ihr stöhnt, alle Schrecken, die euch bedrohen, zeigen euch das gleiche Zeil, das einzige, wo die Rettung ist: Helft euch selbst! … Starrt nicht immer nur rechthaberisch und selbstquälerisch in die Vergangenheit, sondern macht einen dicken Strich und stellt eure Rechnung für die Zukunft auf! Aus seinen Fehlern soll der Mensch lernen, was ihm nottut. Ich, das Jahr 1919, hab‘ euch eure Fehler gezeigt: eure Zerrissenheit und eure Verworrenheit, eure Gewinngier und eure Genusssucht, euren Has, der ebenso selbstsüchtig ist wie eure Verzweiflung. Alles, was ihr mir vorwerft, fällt auf euch selbst zurück. Aber ihr seid so töricht und widerspruchsvoll, dass ihr, obwohl ihr kein Ende findet, um mich zu lästern, in wenigen Stunden dennoch vor vollen Flaschen sitzen und kindische Allotria treiben werdet, nur um von mir Abschied zu nehmen und das neue Jahr zu begrüßen – dem ihr nach zwölf Monaten nicht dankbarer sein werdet als mir.‘“

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