Christa Pöppelmann > November 1918 > Montag, der 4. November 1918
Montag, der 4. November 1918
In Kiel flackern die Unruhen an verschiedenen Stellen wieder auf. Gruppen Aufständischer ziehen durch die Stadt und rufen vor den Kasernen zu erneuten Protesten auf. Gegen Mittag rebellieren die Matrosen in der großen Kasernenanlage in der Wik nahezu geschlossen. Teilweise schließt sich die mittlere Führungsebene an oder verhält sich zumindest neutral. Rund 2000 bewaffnete Soldaten und Arbeiter beginnen öffentliche und militärische Einrichtungen zu besetzen. Auf Vorschlag von Karl Artelt werden Soldatenräte nach sowjetischem Vorbild gewählt. Gouverneur Souchon informiert nun erstmals seit Beginn der Aufstände den preußischen Kriegsminister Heinrich Schëuch und den Staatsekretär im Reichsmarineamt Ernst Ritter von Mann, wie dramatisch es in Kiel wirklich steht. Außerdem fordert er nun doch Soldaten aus Hamburg und Lübeck an. Doch niemand kümmert sich um den deren Empfang und „Übernahme“ – außer den Aufständischen. Als die Soldaten gegen 14 Uhr mit dem Zug in Kiel eintreffen, werden sie noch am Bahnhof von den Revolutionären abgefangen und entwaffnet. Teilweise kehren sie freiwillig um. Manche verbrüdern sich sogar mit den Matrosen. Auf den Werften und in den Industriebetrieben treten die Arbeiter in Streik. Souchon befürchtet eskalierende Gewalt, untersagt den zahlenmäßig hoffnungslos unterlegenen Militäreinheiten, die ihm zur Verfügung stehen, den Schusswaffengebrauch und erklärt sich zu Verhandlungen mit dem Soldatenrat bereit. In diesem Zug lässt er 16 verhaftete Soldaten frei und verspricht, keine auswärtigen Truppen mehr in die Stadt zu holen.
Am Abend sind etwa 40.000 Menschen aktiv am Aufstand beteiligt. Gegen 19:30 Uhr treffen auch die von Gouverneur Souchon angeforderten Vertreter der Berliner Regierung auf dem Hauptbahnhof ein: Gustav Noske, der wehrpolitische Experte der SPD-Fraktion, und der linksliberale Staatsekretär Conrad Haußmann. Die beiden werden mit großem Jubel begrüßt. Auch als Noske später in einer Rede auf dem Wilhelmsplatz, wie von Souchon gewünscht, dazu aufruft, Ruhe und Ordnung zu wahren und keine nutzlosen Gewalttaten zu begehen, erntet er begeisterten Beifall. Der Historiker Mark Jones, der sich speziell mit der Rolle der Gewalt im Rahmen der Novemberaufstände befasst hat, meint, dass der Jubel vor allem der Tatsache gegolten habe, dass die Anwesenheit eines Regierungsvertreters den Aufständischen eine gewisse Sicherheit gab, nicht von konterrevolutionären Truppen niedergeschossen, sondern mit ihren Anliegen gehört zu werden. Zum anderen aber sprach Noske mit seiner Absage an „nutzlose Gewalt“ den Revolutionären durchaus aus dem Herzen. Gewalttaten oder gar Exzesse, in denen sich tiefsitzender Hass gegen die Vertreter der alten Kräfte entlud, gab es während der Novemberaufstände weder in Kiel noch sonstwo. Trotzdem starben Menschen. Doch Jones weist nach, dass sie so gut wie immer Opfer von Panikreaktionen wurden. Bei allem Jubel war die Stimmung in Kiel und später auch an anderen Orten extrem angespannt. Die Lage war unübersichtlich. Unter den Aufständischen wurde aus der Befürchtung, dass Militär gegen die Revolution in Bewegung gesetzt werden könne, schnell das Gerücht, in der Nähe stationierte Elite-Regimenter seien seien tatsächlich schon im Anmarsch. Auf der Gegenseite herrschte Angst, die Aufständischen könnten es auf Rache und Gräuel abgesehen haben, wie man das aus Berichten von der Pariser Kommune oder der Russischen Revolution kannte. In dieser Atmosphäre eskalierten teils schon nichtige Zwischenfällee leicht eskalieren.
So feuern einige Matrosen am Nachmittag angesichts der Freilassung ihrer Kameraden durch Souchon Freudenschüsse ab. Später wird Noskes Rede mit neuem Salut gefeiert und bis drei Uhr nachts weitergeschossen. Alle, die nicht vor Ort sind, hören jedoch nur Gewehrfeuer, das ihre schlimmsten Ängste zu bewahrheiten scheint.
Unterdessen wendet sich die Regierung in Berlin, die sich explizit als Volksregierung bezeichnet, mit einer Proklamation an eben jenes Volk. Sie führt die Reformen an, die sie bereits veranlasst hat, und verspricht: „Die Umwandlung Deutschlands in einen Volksstaat, der an politischer Freiheit und sozialer Fürsorge hinter keinem Staate der Welt zurückstehen soll, wird entschlossen fortgeführt.“ Dafür fordert die Regierung das Vertrauen des Volkes, die Mitwirkung der Verwaltungs- und Militärbehörden sowie die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung. Nur so seien der Abschluss eines baldigen Friedens und der Wiederaufbau der Volkswirtschaft zu erreichen. Alle großen Arbeitgeberverbände hätten sich bereit erklärt, die eingezogenen Arbeiter und Angestellten sofort wieder einzustellen. Außerdem wird versichert, sowohl die Regierung wie die Leitung von Heer und Flotte wollten den baldigen Frieden. Dass Letzteres ein fundamentaler Irrtum war, ist offenbar in Berlin vor Drucklegung noch nicht erkannt worden, wie überhaupt die Ereignisse in Kiel gegenüber der Berichterstattung über den österreichisch-ungarischen Friedensschluss nur eine Randnotiz in der Hauptstadtpresse sind.
Der Aufruf der Regierung richtet sich an die „deutschen Männer und Frauen“. Doch die politische Teilhabe der Frauen muss erst noch erkämpft werden. Zwar hatte es vor dem Krieg eine sehr aktive Bewegung für das Frauenstimmrecht gegeben, doch sie war in ein sozialistisches und ein bürgerliches Lager geteilt gewesen und mit Kriegsausbruch hatten sich die meisten Aktivistinnen dem „Burgfrieden“ unterworfen, während sich die Marxistinnen – etwa Clara Zetkin – von der Frauenpolitik der Antikriegspolitik zuwandten. Der Sommer 1917 führte dann jedoch nicht nur zum Zusammenschluss der interfraktionellen Opposition im Reichstag, auch die Frauen, die den drei Parteien nahestanden, erhoben nun gemeinsam ihre Stimme.
Eine Tagung, zu der die sozialdemokratischen Frauen und der Deutsche Verband für das Frauenstimmrecht in die Sophiensäle geladen haben, findet so großen Zuspruch, dass die Rednerinnen und Redner nacheinander in zwei Sälen sprechen müssen. Eröffnet wird durch Marie Stritt, die Vorsitzende des Frauenstimmrechtvereins und Mitbegründerin der International Woman Suffrage Alliance. Als ehemalige Theaterschauspielerin ist sie eine anerkannt glänzende Rednerin. Alle deutschen Staaten wetteiferten derzeit in der Raschheit der Demokratisierung, prangert sie an, nur vor einem Punkt mache die Erneuerung halt: vor den Rechten der Frau. Auch der neue Volksstaat rechne die Frau noch immer nicht zum Volk. Das Frauenstimmrecht aber sei nicht nur eine brennende Gegenwartsforderung für das persönliche Leben der Frauen, sondern auch eine Lebensfrage für das Volk. Weitere Rednerinnen sind u. a. Marie Juchacz, die Frauensekretärin im Parteivorstand der SPD (und spätere Gründerin der Arbeiterwohlfahrt), die promovierte Staatswissenschaftlerin Rosa Kempf, die Gewerkschafterin Gertrud Hanna und Adele Schreiber, die Gründerin der Deutschen Gesellschaft für Mütter- und Kindesrecht. Aber auch Männer, die die Sache unterstützten, wie der Abgeordnete (und spätere Reichskanzler) Hermann Müller als Abgesandter des SPD-Parteivorstands oder ein Pastor Francke (vermutlich Hans Francke von der Deutschen Friedensgesellschaft), der sich durch das kirchliche Frauenstimmrecht eine Demokratisierung der Landeskirche erhofft, dürfen sprechen.
Ähnliche Veranstaltungen gibt es überall im Land.
Die Berliner Regierung sorgt unterdes für einen anderen Paukenschlag. Sie weist Adolf Joffe, den Botschafter der Sowjetunion und seine Mitarbeiter aus. Man befürchtet, dass diese einen bolschewistischen Aufstand vorbereiten. Indiz war eine an die Botschaft adressierte Kiste voller Propagandamaterial, die angeblich beim Verladen am Bahnhof zerbrochen war. Der Vorgang führt zu wilden Spekulationen. Etwa, dass die Botschaft deutsche Kommunisten aufgestachelt hat, Morde und andere Terrorakte zu begehen.
Das Berliner Tageblatt dagegen betont, man wisse nicht, ob in der russischen Botschaft tatsächlich Verschwörungen angezettelt worden seien. Die Ausweisung sei trotzdem richtig, denn sie gäbe Deutschland die Möglichkeit seine Beziehung zum russischen Volk wieder auf eine gesunde und anständige Grundlage zu stellen. Durch den Frieden von Brest-Litwosk habe sich die deutsche Regierung zum „Freund und Beschützer der Bolschewiki“ gemacht. Dadurch „haben wir uns den Hass jener großen, russischen Mehrheit zugezogen, die unter der bolschewistischen Tyrannei furchtbar leidet und die ausgeplündert, bedroht und gepeinigt, ein geradezu unerträgliches Leben führt. Indem wir das Gold, das die Sowjetregierung nach Deutschland lieferte, erfreut annahmen, schienen wir uns an ein Regime gekettet zu haben, dass im Namen der Freiheit jeden Andersdenkenden einsperrt und unschuldige Geiseln füsiliert.“