Christa Pöppelmann > November 1918 > Montag, der 6. Januar 1919
Montag, der 6. Januar 1919
Der „Provisorische Revolutionsausschuss“ hat zum Generalstreik aufgerufen und schätzungsweise eine halbe Million Arbeiter und Arbeiterinnen legen an diesem Tag in Berlin ihre Tätigkeit nieder und beteiligen sich an den Aufmärschen. Doch es sind nicht nur die Anhänger der Linken auf der Straße. Auch die Regierung hat zum öffentlichen Protest aufgerufen „gegen die Gewalttaten der Spartakusbande.“ Die Anhänger der einen ziehen zur Siegessäule, die der anderen zur Wilhelmstraße. „Beide bestehen aus den gleichen genau gleich gekleideten Kleinbürgern und Fabrikmädchen“, notiert Harry Graf Kessler über die Zuhörer, „schwingen dieselben roten Fahnen, marschieren den gleichen Familien Marschtritt. Nur tragen sie verschiedene Inschriften, höhnen einander im Vorbeiziehen und werden heute noch vielleicht aufeinander schießen.“
Letzteres ist nicht aus der Luft gegriffen. Zwar tragen viele Plakate mit der Aufschrift „Brüder, nicht schießen!“, doch auf der Siegesallee fordert Liebknecht, die Straße solange besetzt zu halten, bis die Regierung gestürzt sei. Vom Balkon der Reichskanzlei erklärt Scheidemann, so könne es nicht weitergehen. Eine kleine Minderheit dürfe nicht ein ganzes Volk beherrschen. Danach warnt Robert Leinert, der Vorsitzende des Zentralrates, der Spartakus-Bund habe es auf ein Blutvergießen angelegt. Frauen und Kinder sollten deshalb die Straßen verlassen. Doch nicht nur sie bringen sich in Sicherheit. Gegen Mittag laufen die meisten Teilnehmer beider Lager auseinander.
Der spätere DDR-Präsident Wilhelm Pieck, der Mitglied im Revolutionsausschuss ist, wird später bemängeln, man habe versäumt, wirklich aktiv zu werden, in die Betriebe zu gehen, die Arbeiter zu organisieren, Kampfabteilungen zu bilden, den Feind zu beobachten und eine Verbrüderung von Arbeitern und eingesetzten Truppen herbeizuführen.
Und Rosa Luxemburg wird zwei Tage später in der Roten Fahne schreiben: „Vom Roland bis zur Viktoria standen die Proletarier Kopf an Kopf: Eine Armee von 200.000 Mann, wie kein Ludendorff sie gesehen. Sie standen von früh um neun in Kälte und Nebel, und irgendwo saßen die Führer und berieten. Der Nebel stieg, und die Massen standen weiter. Aber die Führer berieten …“
Hätte das so gestimmt, hätte es keinen Aufstand gegeben. Doch einige Tausend Arbeiter und linke Funktionäre werden auf eigene Faust aktiv. Sie organisieren Waffen und besetzen auch noch das Spandauer Rathaus, das Haupttelegraphenamt, das Proviantamt, die Eisenbahndirektion und die Reichsdruckerei. Da letztere die Wahlzettel zu drucken hat, hoffen die Besetzer damit die Wahlen am 19. Januar sabotieren zu können. Weitere Übernahmeversuche, etwa von Kasernen, scheitern. Den ganzen Nachmittag sind in der Stadt Schüsse zu hören und Gerüchte über anmarschierende Truppen, weitere Besetzungen und andere Aktionen beider Lager machen die Runde. Nach Einbruch der Dunkelheit fließt bei einer Auseinandersetzung zwischen Mitgliedern der Garde-Pionier-Division und revolutionären Arbeitern in der Köpenicker Straße Blut – die Rede ist von bis zu 15 Toten und mehr als doppelt so vielen Verletzten. Über die Entstehung der Schießerei existieren unterschiedliche Darstellungen. Noch dramatischer endet der Versuch, die Regierungsgebäude in der Wilhelmstraße – d. h. Reichskanzleramt und Außenamt – zu besetzen. Die Aufständischen werden von dem Freikorps Brigade Reinhard, zurückgeschlagen. Dabei kommen 25 Menschen um. Außerdem schießen Reinhard-Soldaten vom Balkon des Prinz-Friedrich-Leopold-Palais in die auf dem Wilhelmsplatz versammelte Menge, was 60 Todesopfer gefordert haben soll.
Unterdessen haben sich die besonnenen Köpfe in der USPD, Hugo Haase, Karl Kautsky, Wilhelm Dittmann und Rudolf Breitscheid, Regierung und Revolutionsausschuss als Vermittler angeboten, um eine Eskalation zu vermeiden. Ebert akzeptiert das Angebot, doch interne Protokolle belegen, dass die Mehrheit der Mitglieder von Regierung und Zentralrat der Meinung ist, das ein Exempel statuiert und der Aufstand militärisch niedergeschlagen werden müsse. Andernfalls untergrabe man seine Glaubwürdigkeit. Vor allem Gustav Noske, Volksbeauftragter für Heer und Marine, ist überzeugt, dass der Konflikt nur militärisch zu lösen ist. Als ihn die anderen auffordern, die Leitung zu übernehmen, erwidert er: „Meinetwegen, einer muss der Bluthund werden.“
Er richtet am Nachmittag im Luisenstift im vornehmen Berliner Stadtteil Dahlem sein Hauptquartier ein und macht sich daran, Truppen zu rekrutieren. Seitdem die regulären Truppen des Generalkommandos Lequis sich in den Weihnachtskämpfen teilweise aufgelöst haben, sind er und die OHL dazu übergegangen, lieber auf einzelne Offiziere zu setzen, die aus den Mitgliedern der heimkehrenden Einheiten Freiwilligenverbände formen und diese dann der Regierung zur Verfügung stellen. So ist etwa die Brigade Reinhard unmittelbar nach der „Blutweihnacht“ von General Wilhelm Reinhard aus Resten der preußischen Gardegruppen, dem „Suppenbataillon“ und weiteren Freiwilligen aufgestellt worden. Ob er das aus eigener Initiative oder auf Aufforderung von dritter Seite hin tat, ist nicht bekannt. Finanziert wurde er jedenfalls vom Groß-Berliner Bürgerrat. Noske gab der schnell auf 2500 Mann angewachsenen Brigade seinen Segen, unterstellte sie der Garde-Kavallerie-Schützen-Division (und damit Waldemar Pabst) und setzte sie zur Bewachung der Regierungsgebäude ein. Er und der neue Kriegsminister Walther Reinhardt planten sogar, Wilhelm Reinhard, den andere Sozialdemokraten eine „besonders unerfreuliche Erscheinung“ nannten, zum Nachfolger von Otto Wels als Berliner Stadtkommandanten zu machen. Dieses Unterfangen scheiterte jedoch am Widerstand der Berliner Soldatenräte.
Später wird Reinhard SS-Obergruppenführer werden und ist damit nur einer von vielen Freikorps-Führer, die Wegbereiter und Anhänger des Nationalsozialismus sind.
In öffentlichen Aufrufen werden Studenten, Lehrer, Beamte und andere Kampfwillige aufgerufen, sich den Freikorps anzuschließen. In vielen Stadtteilen entstehen – soweit noch nicht früher geschehen – Bürgerwehren zum Schutz des Eigentums. Daneben rufen der später von den Nazis ermordete Vorwärts-Redakteur Erich Kuttner und sein Kollege Albert Baumeister angesichts der Besetzung ihrer Redaktion SPD-Anhänger zum bewaffneten Schutz der Regierung auf und formieren so die Freiwilligenregimenter Liebe und Reichstag. Nach Beendigung des Aufstandes will man dann all diese Freikorps, Bürgerwehren, Truppenteile etc. zu einer „Republikanischen Schutztruppe“ zusammenfassen, die auf die Regierung vereidigt und Noske untersteht wird.
Dagegen scheitern die Revolutionäre damit, wesentliche Teile der Berliner Truppen auf ihre Seite zu bringen. Sogar die „roten Matrosen“ der Volksmarinedivision erklären sich für neutral, obwohl Karl Liebknecht sie persönlich im Marstall aufsucht (was sofort zu dem Gerücht führt, er hätte dort sein Hauptquartier aufgeschlagen).