Samstag, der 28. Dezember 1918

Wie konnte es zu der „Blutweihnacht“ kommen? Was ist wirklich passiert? Wer trägt die Schuld? Was sind die Konsequenzen? Diese Fragen werden vor allem in Berlin noch immer erregt diskutiert.

Auf einer gemeinsamen Sitzung des Rats der Volksbeauftragten  und des Zentralrats fliegen die Fetzen. Die USPD wirft Ebert vor allem vor, dass er Lequis einen Blanckscheck gegeben habe. Ebert jedoch behauptet, er habe lediglich angeordnet, das Erforderliche zur Befreiung von Otto Wels zu tun. Die USPD kontert, dass es weder nötig noch zweckdienlich gewesen sei, sieben Stunden nach der Information, Wels schwebe in Lebensgefahr, u. a. das Gebäude zu bombardieren, in dem er gefangen sei. Er aber habe dem Militäreinsatz aber nicht einmal Grenzen auferlegt und keine Anstalten gemacht, ihn zu kontrollieren.

Auch die Berliner Gardetruppen verstehen nicht, warum die Regierung, als sie von den Matrosen in der Reichskanzlei festgesetzt wurde, Truppen von außerhalb zur Hilfe gerufen hat, und nicht die Garde. „Dieselbe hätte dann unfehlbar durch Vermittlung zwischen Wels und der Marinedivision unblutige Klärung geschaffen“, erklärt der Kommandant der „Franzer“. „Anstatt dessen übergibt die Regierung dem General Lequis, der schon wie einwandfrei festgestellt ist, tagelang mit seinen durch Schuld einer gewissen Klasse wenig aufgeklärten Mannschaften auf den ersten Schuss in Berlin gewartet hat, um den Berlinern ‚auf die Schnauze zu schlagen‘. Musste gerade diesem Offizier der Oberbefehl übertragen werden? Es ist eine Frage, ob Lequis die Regierung terrorisiert und gezwungen hat, ihm die Ruhe und Sicherheit, die ja dann glänzend bewiesen wurde, für Berlin zu übertragen.“ Er versicherte aber, trotzdem und trotz der Verbrüderung mit den Matrosen in der Nacht vom 23. zum 24. Dezember, weiter loyal zur Regierung zu stehen. Es sei lediglich darum gegangen, Solidarität mit den Kameraden von der Volksmarinedivision zu zeigen, die von Wels grundlos schikaniert und fälschlich der Plünderung im Schloss beschuldigt worden sei. „Nachdem die Marine die Revolution und die Freiheit nach Berlin getragen hat, wird gegen dieselbe beim Militär und im Publikum eine dramatische Verhetzung betrieben … Wir die Garde, und ich glaube im Namen aller Regimenter sprechen zu dürfen, werden den Mohren, der seine Schuldigkeit getan hat, nicht gehen heißen. Wir werden die, die uns am 9. November aus den Kasernen herausholten, und die jetzt immer noch mit uns an einem Strange zogen, nicht wegschicken und werden von ihnen nicht abrücken. Sie sind und bleiben unsere Kameraden und sind nach wie vor auch jetzt auf unserem Standpunkte, indem sie den Übergriff der Regierung gegenüber bedauern: für die Regierung Ebert-Haase, für die Republik, für die Einhaltung der Errungenschaften der Revolution und für einen baldigen, brotbringenden Frieden.“

Auch die Volksmarinedivision selber möchte sich nicht als Gegner der Regierung verstanden wissen, sondern verteidigt sich, sie habe nur für ihre Rechte und ihre Ehre gekämpft, die vor allem durch Wels beschädigt worden seien. Etwa durch den Vorwurf, das Schloss geplündert zu haben. Der wird inzwischen durch das preußische Finanzministerium relativiert. Es seien zwar Wertgegenstände im Umfang von sechs bis sieben Millionen Mark verloren gegangen, aber keine unersetzlichen Kunstwerke. Vor allem seien die Livreekammer und die Garderobe von Kaiserin und Kaiser geplündert und verwüstet worden. In letzter Zeit habe sich das durch die Energie der neuen Führer der Volksmarinedivision verbessert.

Später – nach der Ermordung der Spartakus-Führer – wird alle Schuld Heinrich Dorrenbach zugeschoben. Dieser habe die Vorgänge vom  23. und 24. Dezember im Auftrag von Luxemburg und Liebknecht inszeniert, um den Sturz der Regierung einzuleiten. Die Besetzung der Reichskanzlei sei auf seinen Befehl und gegen den Willen der anderen Matrosenführer, vor allem des offiziellen Kommandanten, Radtke geschehen. Außerdem soll er Geld aus der Divisionskasse veruntreut haben.

So sehr diese Anschuldigungen mit Vorsicht zu genießen sind, so sehr zeigen sie, dass die Volksmarinedivision alles andere als eine Einheit war. Doch die „Blutweihnacht“ spaltete nicht nur die Menschen damals, sondern auch noch die Nachwelt. Vielfach wird Ebert und der SPD vorgeworfen, mit der Division die loyalste Truppe, über die sie verfügte, zugunsten des Paktes mit den reaktionären Offizieren der OHL geopfert zu haben. Doch ein solches Urteil ignoriert, die verwirrende Lage von damals. Die Matrosen waren eine nach außen ziemlich chaotische Truppe, in der der Liebknecht-Vertraute Dorrenbach eine große Rolle spielte, die sich aber auch für den rechten Putschversuch vom 6. Dezember hatten benutzen lassen.

Die Linke jedoch vereinnahmt die „roten Matrosen“ ganz für sich und erneuert den Vorwurf an die SPD-Regierungsmitglieder, „Bluthunde“ der Reaktion zu sein. Solidaritätserklärungen der Matrosen oder der mit ihnen verbrüderten Truppen für die Regierung ignoriert sie. Für die Rechten, aber auch die meisten Bürgerlichen und bis hinein in die SPD sind die Matrosen dagegen tatsächlich Spartakisten und der Militäreinsatz gegen sie erscheint vor dem Hintergrund der drohenden bolschewistischen Revolution gerechtfertigt.

Dass die Soldaten des Kommandos Lequis – die als loyale Regierungstruppen angesehen werden – am Ende von einem diffusen linken „Mob“ geschlagen wurden, ist ein tief sitzender Schock für viele. Die Spartakus-Panik nimmt noch einmal zu. Man befürchtet, nun wirklich am Abgrund von Bürgerkrieg und Revolution zu stehen. In Berlin geht zeitweise das Gerücht um, die Spartakisten hätten schon die Macht übernommen, bzw. aus den Hafenstädte hätten sich Zehntausende von „roten Matrosen“ auf den Weg gemacht. Auch die SPD-Führer sind in größter Sorge. Scheidemann berichtet später, Ebert hätte in der Reichskanzlei, wo er sich fast andauernd aufhielt, die Bereitstellung von Leitern angeordnet, um sich im Falle eines Falles aufs Dach retten zu können. Und Eberts Frau wagt nicht mehr, sich in ihrem Haus in der Nähe des Treptower Parks aufzuhalten, nachdem persönliche Drohungen gegen die Familie ausgesprochen wurden.

Auch das besonnene Berliner Tageblatt diagnostiziert eine bedrohliche Schwäche der Regierung: „Es ist möglich, dass zum Beginn der ganzen Matrosenaffäre eine Ungeschicklichkeit der Kommandantur, eine ungeschickte Behandlung der Löhungsfrage stand. Diese Tatsache vermindert nicht den Eindruck, dass die Regierung steuerlos von einer Auffassung zur anderen schwankt.“ Die Matrosen hätten auf ganzer Linie gesiegt, die Regierung Ebert-Haase kapituliert. Zwei Tage später legt der liberale Stadtverordnete und Tageblatt-Kolumnist Paul Nathan nach: „Wenn man die Vorgänge in ihrem Zusammenhang betrachtet, so sieht man auf der einen Seite eine Schar Matrosen, gewiss zum überwiegenden Teil gute Menschen, die sich in ihrem Recht gekränkt fühlen, und die in gedankenloser Unbesonnenheit die Männer an der Spitze des Reiches zu verhaften suchen und dann wiederum gutmütig, und ohne unmittelbare Brutalität verübt zu haben, abziehen. Und auf der anderen Seite sieht man eine Reichsregierung, die mit diesen unpolitischen Blaujacken zuerst verhandelt, sich mit ihnen väterlich zu einigen versucht; die sie dann unsanft mit Gewehren und Kanonen behandelt, und die am Schluss wiederum zu einem Kompromiss bereit ist, das die Autorität des Reiches auf das Schwerste erschüttern muss. Eine politische Erziehungsmethode, die so verfährt, ist ganz gewiss vom Übel. Man kann väterlich wohlwollend sein; man kann streng sein. Aber, wenn man väterliches Wohlwollen mit autoritärer Kraftentwicklung mischt, um schließlich zu einem faulen Vergleich zu gelangen, dann wird nur eines zweifellos erreicht: die Regierung untergräbt rettungslos das Ansehen, über das sie verfügt, und eine Regierung, die des Ansehens entbehrt, steht vor dem Zusammenbruch. Die Volksbeauftragten, die heute an der Spitze Deutschlands stehen, haben in ihren Reihen nicht nur brave, sondern auch energische und begabte Männer. Aber dieses Sechs-Männer-Kollegium ist zu einer verhängnisvollen Politik der Planlosigkeit verurteilt, weil es sich nicht einig ist, weil die Mehrheitsozialisten und die Unabhängigen ganz zweifellos unaufhörlich gegeneinander arbeiten. … Was wir erlebt, ist furchbar ernst. Uns bleibt nur eines zu Hoffen: dass auch die Volksbeauftragten diesen bitteren Ernst erkennen, und dass diese Erkenntnis sie befähigt zu konsequentem Handeln.“

Auf der gemeinsamen Tagung von Regierung und Zentralrat kommt es jedoch zu keiner Einigung. Dabei steht der nur aus SPD-Mitgliedern bestehende Zentralrat gar nicht bedingungslos auf Seiten von Ebert, Scheidemann und Landsberg. So missbilligt er etwa die Beschießung des Schlosses mit nur zehnminütiger Vorwarnzeit und stimmt den USDP-Regierungsmitgliedern zu, dass die Beschlüsse des Rätekongresses sofort und ohne Ausführungsbestimmungen umgesetzt werden sollen. Trotzdem ist die Regierung nicht zu retten. Kurz nach Mitternacht erklären Hugo Haase, Wilhelm Dittmann und Emil Barth, dass sie keine Basis für eine weitere Zusammenarbeit mehr sehen und deshalb die Regierung verlassen. „Wir können es nicht verantworten“, begründen sie den Schritt, „dass einem Vertreter des alten Gewaltsystems, die Verfügung über das Leben der Mitmenschen nach Belieben übertragen wird.“ Bevor er den Raum verlässt verabschiedet sich Haase von den einstigen Kollegen mit dem Wunsch, dass diese nun in der Lage sein werden, die Regierungsgeschäfte wirksam zu führen und eine kraftvolle, nach außen und innen völlig geachtete und gesicherte Regierung darzustellen.

 

Doch nicht nur in Berlin geht es rund. Eine von dem USPD-Politiker Heinrich Ströbel geleitete Regierungsdelegation ist nach Mühlheim an der Ruhr unterwegs. Denn ausgehend von Hamborn, einer Hochburg der radikalen Linken, kommt es dort seit einiger Zeit immer wieder zu spontanen Streiks. Im Gegensatz zu den meisten anderen Arbeitern bestehen die Stahlarbeiter auf einer Sozialisierung ihrer Betriebe. Sie erklären Ströbel für den Staat arbeiten wollen, für die Kapitalisten aber keine Schicht mehr einzufahren.

Schreiben Sie einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.