Samstag, der 28. Juni 1919

In Versailles wird ein zweifelhafter Frieden geschlossen. Die Vertragsunterzeichnung findet in exakt jenem Spiegelsaal statt, in dem 1871 das deutsche Kaiserreich proklamiert worden war. Für viele Franzosen ist gerade diese Koinzidenz eine Wiedergutmachung ihrer damaligen Niederlage. Dabei war die Proklamation von 1871 wohl gar nicht erfolgt, um Frankreich zu provozieren. Der französische Historiker Étienne François jedenfalls macht in erster Linie preußische Sparsamkeit dafür verantwortlich. Die deutschen Truppen belagerten damals Paris, das sich im Gegensatz zu dem Rest Frankreichs noch nicht ergeben hatte. Die Preußen waren im Schloss Versailles stationiert, auch die anderen deutschen Fürsten anwesend, also nutzte man die Zeit, um die Reichsgründung vorzubereiten. Danach schien es vernünftig, sie sofort und auf quasi neutralem Boden zu vollziehen, nicht in der preußischen Hauptstadt, was das Primat Preußens betont hätte, das es natürlich gab, das für die anderen Länder aber nach wie vor ein mentales Problem bedeutete. Dass man aber den Spiegelsaal wählte, an dessen Ende der Salon de la Guerre, der Kriegssaal lag, den Ludwig XIV. mit Fresken seiner erfolgreichen Kriege, auch gegen Deutschland, hatte schmücken lassen, mag dann schon ein bewusster Akt des Revanchismus gewesen sein. 1919 sorgt dann Clemenceau mit einem ausgefeilten, demütigenden Protokoll für die deutsche Delegation dafür, dass der Spieß wieder umgedreht wird. Endlich in den Spiegelsaal hineingerufen, müssen die Deutschen erst einmal an schwerstverletzten Soldaten vorübergehen, die dort bewusst postiert worden sind, um den Verlierern drastisch vor Augen zu führen, was sie angerichtet haben. Dann sehen sich der neue Außenminister Hermann Müller und Verkehrsminister Johannes Bell – als einzige in Zivil – lauter uniformierten Ordensträgern gegenüber. Sie haben an einem Tisch Platz zu nehmen, der genau dort steht, wo 1871 ein Feldprediger die Reichsgründung als einen Akt der Vorsehung verklärt hat. 

Schreiben Sie einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.