Samstag, der 7. Dezember 1918

Ganz Berlin diskutiert erregt die Ereignisse des Vortags. Wer hinter dem Ereignissen steckt, weiß man noch nicht. Doch viele sind sich sicher, dass nur eine Gruppe schuld sein kann. „Klirrt irgendwo auf der Straße eine Fensterscheibe“, hatte Rosa Luxemburg bereits am 18. November in der Roten Fahne gespottet, „platzt an der Ecke ein Pneumatik mit lautem Knall, gleich schaut sich der Philister mit gesträubten Haaren und einer Gänsehaut auf dem Rücken um: ‚Aha, sicher kommen die Spartakusleute.'“ Nicht nur in der rechten Presse, auch in einer Zeitung wie dem Berliner Tageblatt heißt es, die blutigen Krawalle seien wohl durch Umsturzpläne der Spartakus-Leute verursacht worden. Dabei machen sogar die Augenzeugenberichte, die in der eigenen Zeitung abgedruckt sind, klar, dass linke Aktivisten wohl nur als unbewaffnete Demonstranten und Opfer involviert waren. Der Vorwärts setzt sogar noch einmal eins drauf, indem er schreibt: „Nach Berichten zahlreicher Augenzeugen, die man von der anderen Seite natürlich bestreiten wird, wurden die regierungstreuen Soldaten von den ihnen entgegenziehenden Spartakusleuten aufgefordert, ihre Waffen abzuliefern und ihnen zu folgen. Da sich die Soldaten darauf nicht einlassen wollten, wurde auf sie geschossen. Sie erwiderten das Feuer und es kam zu einem Gefecht, bei dem es auf beiden Seiten Tote und Schwerverletzte gab.“

 

Auch Kreise, die der Revolutionsregierung anfangs sehr wohlgesonnen waren, fordern diese nun energisch auf, endlich zu handeln. Bisher, so Paul Michaelis im  Berliner Tageblatt habe sie sich „durch das wesenslose Gespenst einer drohenden Gegenrevolution von rechts in ihrer Entschlusskraft lähmen lassen.“ Doch: „Die Gefahr droht von links … Diese unter der Spartakus-Fahne vereinte Minderheit hat sich durch alle Mittel des Terrors und durch den Appell an die schlechten Instinkte einen gewissen Einfluss zu schaffen verstanden. … Die Arbeitslosen, die auch nicht arbeiten wollten, als es Überfluss an Arbeit gab, … die Deserteure, die ihre Kameraden im Stich ließen, gewisse Elemente aus den Etappen, die Hals über Kopf ihren Posten räumten, solche und ähnliche Leute haben sich um Liebknecht geschart und vergewaltigen nicht bloß das Bürgertum, sondern auch die Arbeiterschaft einer Millionnenstadt.“

Dabei kann von tatsächlicher spartakistischer Gewalt bislang nicht die Rede sein. Aber in Neukölln etwa setzen die linken Aktivisten gerade die Stadtregierung außer Gefecht und in München wurden am Vorabend Zeitungsredaktionen besetzt. Außerdem haben Bewaffnete den bayerischen Innenminister und SPD-Führer Erhard Auer in seiner Wohnung heimgesucht und ihn gezwungen, wegen seiner „verräterischen“ Haltung gegenüber dem „wahren Sozialismus“ ein Rücktrittsgesuch zu unterschreiben. Dazu kommt der linke Verbal-Terror mit seinen Forderungen nach einer bolschewistischen Revolution und der Beseitigung der besitzenden Klasse. All das hat gereicht, sich den tiefen Hass des Bürgertums zuzuziehen. „Was hat die Regierung bisher getan, um den Skandal zu beenden, dass sich jeder sein kleines Maschinengewehr mit nach Hause nimmt?“, fragt Theodor Wolf. Und sein Politik-Chef Michaelis schreibt weiter: „Der Stein ist ins Rollen gekommen. Es ist verhältnismäßig nebensächlich, wer ihm den letzten Stoß gab. Mit der Prüfung der Schuldfrage ist nichts zu erreichen. Jetzt handelt es sich einzig und allein darum, den raschen Entschluss zu fassen und danach folgerichtig zu handeln. …. Bei der Mehrheitssozialdemokratie liegt es, den heutigen Zuständen rücksichtlos ein Ende zu machen. Sie hat die aus dem Felde heimkehrenden Truppen hinter sich, sie kann sich auf die große Masse der Berliner Arbeiter stützen und sie wird auch alle anderen Schichten der ordnungsliebenden Bevölkerung an ihrer Seite finden, wenn sie dem Terrorismus und den Diktaturbestrebungen der Spartacusleute ein Ende zu machen entschlossen ist.“

 

Ganz klar, dass man das bei den Linken völlig anders sieht. Schließlich wurde ein Blutbad an unbewaffneten Arbeitern verübt. Die Rote Fahne ruft zu Kundgebungen und Demonstrationen und zum Massenstreik auf. Auf den Demos werden demonstrativ Maschinengewehre getragen. Bei einer ersten Rede im Tiergarten behauptet Karl Liebknecht, der Putschversuch vom Vortag sei ganz offensichtlich von der Regierung inszeniert worden. „Die deutschen Proletarier müssen mit allen Mitteln versuchen, die Macht, die sie am 9. November mit ihrem Blut erkauft, wieder zu gewinnen. Man kann unmöglich noch Vertrauen zu den Männern der jetzigen Regierung haben, diesen Arbeitermördern, denen die Schreckmittel der alten Regierung eben recht sind zur Aufrechterhaltung ihrer Macht.“ Bei einer zweiten Ansprache ruft er zur Bildung einer Roten Garde auf: „Genossen!“ Wir sind an der Stelle, von der aus der erste Anstoß zu dem gestrigen Blutbade ausgegangen ist. Die Kommandantur ist der beste Stützpunkt der Gegenrevolution. Wir fordern, dass die jetztige Regierung und Wels hinweggefegt werden. Nieder mit Scheidemann und Ebert! Solange nicht diese Bluthunde gestürzt sind, ist die Revolution in Gefahr.“

Ebenso wie der Vorwurf spartakistischen Terrors schon in der Welt ist, bevor es diesen gab, so bezichtigt auch die Linke die sozialdemokratische Regierung als Arbeitermörder und Bluthunde, bevor Ebert und Noske tatsächlich Truppen gegen links einsetzen werden.

 

Auch auf einer gemeinsamen Sitzung Sitzung von Vollzugsrat und Regierung am Abend fliegen die Fetzen. Georg Ledebour und Ernst Däumig vom linken Flügel der USPD werfen der Regierung vor, sie fühle sich nicht mehr als Revolutionsregierung, sondern habe sich von der Atmosphäre der alten Regierung beeinflussen lassen. „Die Generale, die Schwerindustrie, die Großagrarier habe doch noch nicht ihren Frieden mit der Revolution gemacht“, warnt Däumig. Es wird sogar ein Antrag gestellt, Ebert aus der Regierung zu entfernen. Dieser wird jedoch mit großer Mehrheit abgelehnt.

 

Was aber steckte tatsächlich hinter dem Putschversuch? Das ist bis heute noch nicht völlig geklärt. Die Fäden liefen mit ziemlicher Sicherheit in der Nachrichtenabteilung des Außenamtes zusammen. Drahtzieher könnte Ferdinand von Stumm gewesen sein, Chef der Abteilung und Verwandter von Wolff-Metternich, der auch dort gearbeitet hatte, bevor er plötzlich aus der Abteilung ausschied und sich der proletarischen Volksmarinedivision anschloss. Möglicherweise war auch Hans von Haeften beteiligt, der Verbindungsoffizier des Generalstabs zum Reichskanzler. Nachdem Ebert bereits Ende November einen Putsch mit Hilfe der Reichswehr verweigert hat, war dies vielleicht ein weiterer Versuch, die Regierung Ebert zu einem Instrument der alten Kräfte zu machen. Es ist aber auch möglich, dass untergeordnete Chargen versucht haben, den Haeften-Plan ohne dessen Wissen doch noch zu realisieren.

Sicher ist die Beteiligung von zwei jungen Attachés im Außenamt, nach denen damals gefahndet wurde: Rochus von Rheinbaben und Hans von Mattuschka. Der Vorwärts schreibt, „dass ein paar kleine Beamte des Auswärtigen Amts mit hochtrabenden aristokratischen Namen den kecken Fälscherstreich in Szene gesetzt und das Militär irregeführt haben.“

 

In späteren Darstellungen ist oft zu lesen, sowohl die putschenden Soldaten wie auch jene, die auf die demonstrierenden Linken feuerten, hätten Armbinden mit roten Herzen getragen. Laut dem Historiker Mark Jones jedoch hat sich eine Verbindung zwischen dem Blutbad und dem Komplott nie beweisen lassen. In den zeitgenössischen Augenzeugenberichten werden die ominösen Armbinden jedenfalls nicht erwähnt. Auch erklärten die an den beiden Putschaktionen beteiligten Soldaten hinterher, nicht gewusst zu haben, um was es ging. Wie einst die „Truppen“ des legendären Hauptmanns von Köpenick folgten sie einfach den Befehlen scheinbarer Autoritäten. Die „Franzer“ wurden demnach von einem ihrer Kommandanten, einem Hauptmann Kohler, aufgefordet im Namen der Regierung den Vollzugsrat zu verhaften, da dieser 2,5 Millionen Goldmark unterschlagen habe. Und in den Redaktionsräumen der Roten Fahne hätten sie nach falschen Regierungsstempeln suchen sollen.

 

Was die Schießerei auf der Kreuzung Chausee-/Invalidenstraße angeht, die damals schon am heftigsten diskutiert und auch heute am wenigsten geklärt ist, gibt Stadtkommandant Otto Wels am 8. Dezember im Vorwärts zu, dass er die Sperrung der Kreuzung durch Soldaten veranlasst hat. Der Soldatenrat Krebs, der schon drei Tage zuvor vor einem Spartakistenaufstand gewant hatte, sei mit der Information in die Kommandantur Unter den Linden gekommen, dass die Teilnehmer der „Deserteur-Versammlungen“ im Anschluss Demonstrationen veranstalten wolten, um ihre Forderungen mit Waffengewalt durchzudrücken. Dass die Polizei unbewaffnete Demonstrationen genehmigt habe, will Wels nicht gewusst haben. In diesem Fall hätte er nichts unternommen, versichert er. Nun aber sei in die Beratung über mögliche Absperrmaßnahmen die Meldung geplatzt, dass gegen 17 Uhr der Vollzugsrat verhaftet worden sei und die Züge der Deserteure sich bereits in Bewegung gesetzt hätten. „So musste der Eindruck entstehen, dass im Abgeordnetenhaus die Reaktion von rechts am Sturze der Regierung arbeitete, während auf den Straßen die Deserteure von links gegen die Regierung anstürmten. Unter diesem Eindruck erging der Befehl zur Abriegelung der Chaussseestraße von der Invalidenstraße an. … Vor dieser Abriegelung wurde der Führer der Gardefüsiliere ausdrücklich darauf hingeweisen, dass nur in höchster Not und in Notwehr geschossen werden dürfe.“ Ob es diesen Hinweis wirklich gab, ist unsicher, denn die Anordnung an die Gardefüsiliere in der „Maikäferkaserne“ in der Chausseestraße (heute das BND-Gelände), die Kreuzung zu sperren, wurde nicht von Wels, sondern von Krebs per Telefon gegeben. Dieser erklärte im Namen des Generalkommandos zu sprechen (das nachher behauptete, von nichts gewusst zu haben).

 

Laut dem Augenzeugenbericht eines Korrespondenten des Berliner Tageblattes mit dem Kürzel B. S.  wurde die Nachricht von der Verhaftung des Vollzugsrates zuerst in die Versammlung in den Sophiensälen getragen. Daraufhin seien etwa 500 bis 600 Männer und Frauen linke Parolen rufend aber sonst geordnet und ruhig in Richtung der Germania-Säle Prachtsäle losmarschiert, um dann gemeinsam mit den dort Tagenden zum Preußischen Abgeordnetenhaus zu ziehen und dem Vollzugsrat beizustehen. Ein weiterer Korrespondent H. berichtet aus den Germaniasälen. Auch dort sei plötzlich jemand aufgeregt aufs Podium gestürmt und habe von der Verhaftung des Vollzugsrates und der Ausrufung Eberts zum Präsidenten berichtet. „Wenn ihr jetzt den Saal verlasst, dann werdet ihr euer blaues Wunder erleben! Soldaten mit Bajonett halten die Straße besetzt!“ Daraufhin habe sich ein umbeschreiblicher Tumult ergeben. Jemand habe die Bühne gestürmt und gefordert „Kameraden, rächen wir den Vollzugsausschuss. Last uns die Reichskanzlerbude stürmen und Ebert an die nächste Laterne hängen.“ „Ehe sich nun der Zug auf der Straße ordnete“, berichtet Korrespondent H. nun weiter, “ sperrten Soldatenketten mit aufgepflanztem Seitengewehr die Invalidenstraße nach beiden Seiten hin und die Chausseestraße nach der Südseite hin ab. Unter Absingung des Arbeiterkampfliedes und unter Vorantragen von Roten Fahnen näherte sich der Zug der Ecke Invalidenstraße. Da ertönte das Soldatenkommando: ‚Zusammenschließen! Fertig machen!‘ Zugleich wurde den Demonstranten: ‚Zurück!‘ zugerufen. Da dieser Aufforderung nicht entsprochen wurde, ließ man den Zug bis an die Ecke Invalidenstraße herankommen. Hier wurde er mit gefälltem Bajonett nach der Westseite der Invalidenstraße hineingetrieben, was ohne Blutvergießen geschah. Schon glaubte man an einen friedlichen Ausgang der Demonstration, als plötzlich mitgeteilt wurde, dass der Zug wiederkomme, und zwar von der Südseite der Chausseestraße her. Er hatte nämlich den Umweg über den Zirkus Schuman genommen und erschien nun hier wieder auf der Bildfläche. Sofort wurde befohlen: ‚Publikum von der Straße, Straße freimachen!‘ worauf alle sich in Sicherheit zu birngen suchten. Als dann die Spitze des Zuges unter Hochrufen auf Liebknecht sich der Ecke der Invalidenstraße näherte, wurden wiederum Kommandos: ‚Zug zurück!‘ gegeben. Da diese Aufforderung keinen Erfolg hatte, so setzte Maschinengewehrfeuer, unterstützt von Gewehrfeuer ein. Eine wilde Panik entstand, und unter lautem Schreien stoben Zivilisten und Soldaten auseinander. Nach kaum zwei Minuten war der Tumult zu Ende.“ Korrespondent B. S. schreibt, dass der Zug aus den Sophiensälen kurz unter dem Oranienburger Tor Nachricht erhalten habe, dass an der Ecke Invalidenstraße Soldaten mit Maschinengewehr postiert seien. Ungefähr die Hälfte der Demonstranten habe sich entfernt, die anderen aber seien trotz der Warnung „Halt oder wir feuern!“ zusammen mit dem Zug aus den Germania-Prachtsälen von der südlichen Chausseestraße her auf die Soldaten zugestürmt. „Ein kurzes Kommando: ‚Feuer‘ und in der Chaussestraße fing das mit der Mündung nach dem Oranienburger Tor aufgestellte Maschinengewehr an zu tacken. Auch die Soldaten gaben Schnellfeuer in beide Richtungen ab. Anderthalb oder zwei Minuten nur dauerte das Feuer.“

Die beiden Berichte erscheinen weitgehend glaubwürdig. Das Problem dabei: Von den Sophiensälen bis zum Oranienburger Tor sind es keine 1,5 Kilometer, von dort bis zur ominösen Kreuzung etwa 500 Meter. Während die Teilnehmer diese kurze Strecke zurücklegten, muss ein Augenzeuge die Nachricht in die ebenfalls 1,5 Kilometer entfernte Stadtkommandantur getragen haben, wo wohl zumindest eine kurze Beratung stattfand. Dann gab Krebs dem Kommandanten der Gardefüsiliere telefonisch den Befehl, die rund 500 Meter von der Kaserne entfernte Kreuzung abzusperren. Schließlich müssen auch noch die Demonstranten aus den Germania-Prachtsälen (keine 200 Meter von der ominösen Kreuzung entfernt) abgedrängt worden sein und den etwa ein Kilometer langen Weg über die westliche Invalidenstraße zum Oranienburger Tor genommen haben, bevor dort die Demonstranten aus den Sophiensälen eintrafen. All das erscheint ein bisschen viel für den kurzen Zeitraum. Deshalb stellt sich die Frage, ob die Warnung in der Kommandantur, die Demonstrationszüge hätten sich bereits auf die Straße begeben dort eintraf, bevor dies tatsächlich geschehen war. Das aber würde bedeuten, dass es ein gezielter Akt war, den Teilnehmern der Veranstaltungen Soldaten in den Weg zu stellen, die mit einem bewaffneten Angriff rechneten. Dies kann natürlich ein Manöver der Putschisten gewesen sein, aber auch eine autonome Aktion irgendwelcher Militärstellen oder auch Soldatenräte gegen die ungeliebten Deserteure ist denkbar.

Und die Schießerei? Die Soldaten beteuerten hinterher, sie seien zuerst beschossen worden. Die angeblichen Augenzeugenberichte divergieren. Aus heutiger Sicht jedoch spricht viel dafür, dass die Demonstranten tatsächlich unbewaffnet waren. So hätten die beiden Korrespondenten des Tageblatt, die deutlich erkennbar keine Sympathisanten der Deserteure waren, bestimmt erwähnt, wenn sie bei diesen Waffen gesehen hätten. Und die Vorstellung, dass ein einzelner Bewaffneter aus einer unbewaffneten Menge heraus das Feuer auf Soldaten mit Maschinengewehren eröffnet, ist einigermaßen hanebüchen. Möglich ist, dass die Soldaten, die zahlenmäßig in der Minderheit waren, sich angegriffen fühlten – vielleicht platzte tatsächlich irgendwo der berühmte Autoreifen – und dann wild losfeuerten. Möglich ist natürlich auch, dass die unbekannten Hinterleute nicht Zurückhaltung, sondern energisches Durchgreifen befohlen haben. Korrespondent H. berichtet, die Soldaten hätten sich nach dem Feuerhagel sofort der Verletzten und Toten angenommen, sie von der Straße getragen und für ihren Transport in Krankenhäuser gesorgt. Aber spricht das dafür, dass sie das „Aufräumen“ als Teil ihres Auftrags sahen? Oder dafür, dass sie erschrocken über das waren, was sie angerichtet hatten?

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