Sonntag, der 10. November 1918

Theodor Wolff bejubelt im Berliner Tageblatt die Ereignisse des Vortages enthusiastisch: „Die größte aller Revolutionen hat wie ein plötzlich losbrechender Sturmwind das kaiserliche Regime mit allem, was oben und unten dazu gehörte, gestürzt. … Es gab noch vor einer Woche einen militärischen und zivilen Verwaltungsapparat, der … so tief eingewurzelt war, dass er über den Wechsel der Zeiten hinaus seine Herrschaft gesichert zu haben schien … Gestern früh war, in Berlin wenigstens, das alles noch da. Gestern Nacht existierte nichts mehr davon.“ Seinen langen, bereits vorbereiteten Nachruf auf den Kaiser hat er sogar schon am Vortag im Abendblatt publiziert. „So sicher es ist, dass der von der Höhe herabfallende Stein nicht in der Luft hängen bleiben kann, so sicher stand, nach dem Gesetz der Schwere, seit Wochen diese Lösung der großen Frage fest. Besser wäre es auch hier gewesen, dem Willen des Volkes nicht hinterdrein zu folgen, sondern ihm mit Herrscherwürde voranzugehen. … Wer dem Kaiser nie die Rosen, die aus den Gärten von Byzanz stammen, dargebracht hat, wird in diesem Augenblick gern darauf verzichten, auf die Schwelle, über die er hinausschreitet, nur Beschuldigungen zu streuen. Er hat dreißig Jahre lang regiert, und er ist das Opfer von Eigenschaften geworden, die ein Teil seiner Natur waren und von fatalen Persönlichkeiten zugunsten falscher Ziele ausgebeutet worden sind. Man kann ihn nicht mit wenigen Worten zeichnen, denn sein Wesen ist sehr gemischt und es geht in ihm vieles, was unvereinbar scheint, durcheinander und nebeneinander her. … Auf dem Gebiet der Technik hat er, wie alle, die auf einem Schiffe oder in einer Fabrikanlage seinen Erläuterungen zugehört haben, versichern, die wirkliche Begabung eines Ingenieurs. Sehr viel weniger entwickelt und besonders sehr viel weniger ausgeglichen, war immer sein politischer Sinn. Die große Politik behandelte er mit einer Sprunghaftigkeit, die sich schnell von einer Frage abwendet und ein neues Gewebe beginnt. … So musste das Misstrauen überall wachsen, wurde wie in einer Shakespeareschen Komödie, alles durcheinander gebracht. Die Reden, die vielen Reden kamen hinzu. Wilhelm II. war kein ‚Alldeutscher‘, er ist von den Alldeutschen lange als ein friedliebender Schwächling angesehen worden, und er hat doch das alldeutsche Vokabularium abwechselnd bereichert und ausgeschöpft. … Im Grunde seines Herzens war er ein aufrichtiger Friedensfreund … Er fühlte nur manchmal das Bedürfnis, den Panzer ein wenig klirren zu lassen, weil das zum Schauspiel der Macht gehört. … Kriegerische Worte zählten, wenn er sie ausgesprochen hatte, gewöhnlich nicht mehr für ihn. Aber der Eindruck im Auslande blieb. … Wilhelm II. war nicht der alleinige Urheber, aber der Repräsentant einer aberwitzig kurzsichtigen, alle Kräfte und Ideen des Auslandes falsch schätzenden Politik, und er war das Symbol einer Zeit und eines Geistes, der in Machtbegehren und Selbstüberhebung die Katastrophe herbeigeführt hat.“ Über Ebert dagegen heißt es: „Alles, was Ebert in seinen Aufrufen an die Bevölkerung sagt, ist wahr und klug.“ Man dürfe „das Vertrauen haben, dass er das einmal übernommene Amt mit dem vollen Einsatz seiner ungewöhnlichen Kräfte und Fähigkeiten auszufüllen bemüht sein wird.“ Das deutsche Bürgertum werde „seine Mitwirkung bei der Durchführung notwendiger Reformen nicht versagen und hoffentlich in Ebert einen leitenden Mitkämpfer gefunden haben, mit dem es, ohne Aufgabe seiner Prinzipien, eine Strecke Wegs zusammengehen kann. … Jeder versündigt sich am Volke, der nicht mit ganzer Kraft bei der Sicherung seiner Versorgung hilft. … Die Einrichtung der Arbeiter- und Soldatenräte ist heute die einzige, die diese Probleme noch lösen kann. Wir wissen nicht, ob die Revolution aus einem Zufall entstand und dann, getragen durch den allgemeinen Geist, vorwärtseilte, oder ob sie seit langem planmäßig organisiert gewesen ist. Aber in diesem Tagen, seit dem ersten Ruf aus Kiel, haben diejenigen, die ihre Leitung in die Hand nahmen, ein seltenes, selbst in dem Lande der Gewerkschaften und der alten militärischen Schulung überraschendes Organisationstalent gezeigt.“

Im der rechtsextremen Deutschen Tageszeitung dagegen tobt Chefredakteur Paul Baecker: „Das Werk, das unsere Väter mit ihrem kostbaren Blute erkämpft – weggewischt durch Verrat aus den Reihen des eigenen Volkes! Deutschland, das noch gestern unbesiegt war, von Männern, die den deutschen Namen tragen, seinen Feinden preisgegeben, durch Felonie aus den eigenen Reihen niedergebrochen in Schuld und Schande! Die deutschen Sozialisten wussten, dass der Friede ohnehin im Werden sei und dass es nur noch gelte, Wochen, vielleicht nur Tage lang dem Feinde eine geschlossene, feste Front zu zeigen, um ihm erträgliche Bedingungen abzuringen. In dieser Lage haben sie die weiße Fahne gehisst. Das ist eine Schuld, die nie vergeben werden kann und nie vergeben werden wird. Das ist ein Verrat, nicht etwa nur an der Monarchie und am Heere, sondern am deutschen Volke selber, das seine Folgen durch Jahrhunderte des Niedergangs und des Elends zu tragen haben wird.“ Baecker ist damit der erste, der die Dolchstoßlegende in der Öffentlichkeit vertritt.

Und die Rote Fahne, die erst gestern von den Spartakisten in den Räumen des besetzten Berliner Lokal-Anzeigers ins Leben gerufen worden war, erklärt, bislang sei nur die bürgerliche Revolution vollzogen, nun gelte es für das Proletariat in einer wirklichen Revolution die politische und wirtschaftliche Macht zu erobern.

 

Während der ganzen Nacht hat es – vor allem im Zentrum – immer wieder Schießereien gegeben. Am Morgen drängen sich dann bereits um 8 Uhr früh Menschenmengen auf dem Potsdamer Platz, um die Spuren der Auseinandersetzungen zu besichtigen. Der Strom der Neugierigen reist den ganzen Tag über – einem strahlend schönen Herbstsonntag – nicht ab, obwohl es immer wieder zu Schießereien kommt. Die Zeitungen berichten, dass vor allem von den Dächern der hohen Gebäude rund um Unter den Linden und Friedrichstraße immer wieder geschossen wird. Eine Kundgebung des pazifistischen Bund Neues Vaterland um 12 Uhr am Bismarckdenkmal vor dem Reichstag endet in wilder Flucht und mit einigen Verletzten, als vom benachbarten Haus des deutschen Ingenieurs geschossen wird und die Soldaten im Reichstag das Feuer erwidern. Die revolutionären Truppen versuchen jedoch, neuralgische Punkte zu sperren und insgesamt passiert erstaunlich wenig. In einem Aufruf wird die Berliner Bevölkerung aufgefordert, nach 20 Uhr, aber besser schon früher, die Straßen zu meiden. Trotz Revolution finden sich am Nachmittag auch Tausende von Menschen auf der Pferderennbahn in Karlshorst ein. Doch die Rennen werden abgesagt, „da die Totalisatorverwaltung es ablehnte, mit dem Automobilomnibus, der, die etwa eine Million Mark enthaltende Kasse barg, die Straße unter den Linden zu passieren.“ Die Rennen sollen jedoch, so wird verheißen, am nächsten Donnerstag nachgeholt werden. All das mutet angesichts von Krieg, Revolution und Hunger befremdlich an. Tatsächlich aber waren Pferderennen damals weniger elitäres Vergnügen, als die Hoffnung des kleinen Mannes auf das große Glück am Wettschalter, weshalb sie besonders Konjunktur hatten, wenn die Lage sehr schlecht war. Und im Gegensatz zu Roulette und anderem Glücksspiel vollkommen legal, obwohl nicht wenige ihr Einkommen regelmäßig verzockten und damit nicht nur sich, sondern auch ihre Familien ruinierten.

 

In den Betrieben jedoch werden trotz des Sonntags am Vormittag, soweit noch nicht geschehen, Arbeiterräte gewählt, und zwar ein Rat auf je 1000 Arbeiter. Ausdrücklich heißt es: „Frauen sind wählbar!“ Tatsächlich gelang das in ganz Deutschland aber nur extrem wenigen Frauen. Ausnahmen sind etwa Tony Sender, die Generalsekretärin des Frankfurter Arbeiterrats, oder Hedwig Kämpfer, die

für den Revolutionären Arbeiterrat im Provisorischen Bayerischen Nationalrat sitzen wird. Die SPD schickt, nachdem sie noch in der Nacht von den Plänen der Obleute erfahren hat, eigene Redner in die Betriebe, die für den Kurs der Regierung werben sollen und darüber informieren, dass eine Regierungsbeteiligung der USPD sowieso schon geplant sei. Vor allem aber sorgen sie mit Unterstützung des preußischen Kriegsministeriums dafür, dass auch in den Berliner Kasernen Soldatenräte gewählt werden. Unter diesen sind dann – wie die Linke später polemisiert – „60 Prozent Epauletten- und Monokelträger“, also viele Offiziere. Die Obleute befürchten nun, dass ihr Plan, Ebert durch eine Räteregierung auszuschalten scheitern wird. Sie kommen deshalb auf die Idee, noch ein übergeordnetes Gremium wählen zu lassen, dass die Tätigkeit des „Rates der Volksbeauftragten“ kontrollieren soll. Dafür bereiten sei eine Namensliste vor, auf der die SPD nicht vertreten ist.

Ebert und die USPD verhandeln unterdessen die Modalitäten einer provisorischen Regierung. Liebknecht als Minister müssen die Mehrheitssozialsiten nicht akzeptieren, denn der lehnt einen Regierungseintritt ab. „Es darf keine Stimme einem Regierungssozialisten gegeben werden“, fordert er in einem Flugblatt. „Sie haben die Revolution vier Jahre lang verraten und werden es wieder tun.“ Die USPD-Führung verlangt jedoch einen paritätisch besetzten „Rat der Volksbeauftragten“, in dem die viel größere SPD und die kleine USPD die gleiche Anzahl an Mitgliedern haben. Darauf lässt sich Ebert ein, aber nicht auf die Forderung, dass auf Dauer die gesamte gesetzgebende, richterliche und vollziehende Gewalt in die Hände der Arbeiter- und Soldatenräte gegeben wird, also eine Räterepublik errichtet. Die Diktatur einer Klasse, hinter der nicht die Volksmehrheit stehe, widerspreche den demokratischen Grundsätzen, stellt er klar. Außerdem fordert er ein Weiterbestehen der Ministerialbürokratie und eine Einbeziehung der bürgerlichen Parteien, um anstehende Aufgaben wie die Lebensmittelversorgung oder die Waffenstillstandsverhandlungen bewältigen zu können. USPD-Führer Hugo Haase gesteht schließlich zu, dass die bisherigen Regierungsmitglieder weiter als Leiter der jeweiligen Reichsämter fungieren dürfen, allerdings dem Rat der Volksbeauftragten untergeordnet und durch jeweils einen SPD- und einen USPD-Beigeordneten kontrolliert. Die Forderung nach einer Räterepublik lässt er fallen. So wird schließlich der Rat der Volksbeauftragten ins Leben gerufen. Für die SPD gehören Ebert, Scheidemann und der Magdeburger Reichstagsabgeordnete Otto Landsberg dem Gremium an, für die USPD Hugo Haase, der Remscheider Abgeordnete Wilhelm Dittmann und Emil Barth, der Vorsitzende der Revolutionären Obleute. Ebert soll für Inneres und Militärisches zuständig sein, Haase für Außenpolitik und die (faktisch nicht mehr vorhandenen) Kolonien, Scheidemann für die Finanzen, Dittmann für Demobilisierung, Verkehrswesen, Rechtspflege und Volksgesundheit, Landsberg für Presse- und Nachrichtenwesen, Kunst und Literatur und Barth schließlich für die Sozialpolitik. Das Regieren in diesem Gremium ist nicht einfach. Während sich aber die anderen fünf dann doch irgendwie einigen, stimmt Barth meist dagegen. Er wünscht sich eine viel weiter gehende gesellschaftliche Umwälzung und hasst vor allem Otto Landsberg, den er für einen ausgemachten Konterrevolutionär hält, erbittert. Seinen Parteigenossen Haase sieht er als ehrenwerten Zauderer und Kompromissler an, Dittman als dessen getreuen Gefolgsmann.

Parallel dazu muss Ebert sich auch noch brisanten Neuigkeiten aus Frankreich widmen. Denn die deutsche Waffenstillstandskommission wurde inzwischen auf verschlungenen Pfaden in die Wälder von Compiègne gebracht, wo sich in einem Eisenbahnwaggon das alliierte Hauptquartier befindet. Dort stellt sich heraus, dass die Kriegsgegner keineswegs gewillt sind, der neuen deutschen Regierung entgegenzukommen. Der Chef-Unterhändler, der französische General Ferdinand Foch, der zu Ende des Krieges gemeinsamer Oberbefehlshaber aller Entente-Truppen geworden ist, präsentiert harsche Bedingungen und eine kurze Frist von 72 Stunden für die Unterzeichnung. Deutschland muss binnen sechs Stunden nach Vertragsunterzeichnung alle Feindseligkeiten einstellen. Innerhalb von 15 Tagen haben sich dann alle Truppen aus Belgien, Frankreich, Luxemburg und Elsass-Lothringen zurückzuziehen. In den nächsten zweieinhalb Wochen sollen dann französische Truppen die linksrheinischen Gebiete, Mainz, Köln und Koblenz besetzen dürfen. In der gleichen Zeit sind 150.000 Eisenbahnwaggons, 30.000 Maschinengewehre, 10.000 Lastwagen, 5.000 Geschütze, 5.000 Lokomotiven, 3.000 Minenwerfer und 2.000 Flugzeuge sowie alle modernen Kriegsschiffe an die Entente abzugeben. Der Frieden von Brest-Litowsk wird annulliert, die britische Seeblockade jedoch vorerst nicht aufgehoben. Erzberger erkundigt sich bei Ebert, ob er das wirklich unterzeichnen soll. Der fragt bei Paul von Hindenburg nach. Doch der OHL-Chef telegraphiert, dass der Waffenstillstand auf jeden Fall unterzeichnet werden müsse, notfalls so wie er ist.

Wilhelm Solf, zwar nicht mehr Mitglied der Regierung, aber immer noch Staatssekretär des Auswärtigen Amts, sendet eine Note an US-Präsident Wilson, mit der dringenden Bitte, um Milderung der „vernichtenden Bedingungen“ hinzuwirken. Darin heißt es: „Nach einer Blockade von 50 Monaten würden diese Bedingungen, insbesondere die Abgabe der Verkehrsmittel und die Unterhaltung der Besatzungstruppen bei gleichzeitiger Fortdauer der Blockade die Ernährungslage in Deutschland zu einer verzweifelten gestalten und den Hungertod von Millionen Männern, Frauen und Kindern bedeuten. … Wir machen den Präsidenten feierlich und ernst darauf aufmerksam, dass die Durchführung der Bedingungen im deutschen Volke das Gegenteil der Gesinnung erzeugen muss, die eine Voraussetzung für den Neuaufbau der Völkergemeinschaft bilden und einen dauerhaften Frieden verbürgt.“ Eine ganz ähnliche Note sendet auch die bayerische Regierung Eisner über den Schweizer Bundesrat an die Alliierten. Auch die Führer von SPD und USPD sowie der Vollzugsrat des Arbeiter- und Soldatenrats werden noch an die ausländischen Genossen appellieren, sich gegen die „von imperialistischen Regierungen diktierten Waffenstillstandsbedingungen“ einzusetzen und sie bitten, darauf hinzuwirken, „dass die Waffenstillstandbedingungen, die Deutschland dem wirtschaftlichem Ruin und dem völligen Hungertode preisgeben gemildert werden, …dass der Friede, der da kommt, ein Friede brüderlicher Verständigung ohne jede Eroberungen und Unterdrückungen werde.“ Tatsächlich gibt es in Frankreich Demonstrationen der Sozialisten rund um Marcel Cachin, die Ministerpräsident Clemenceau vorwerfen, den geplanten Völkerbund vereiteln zu wollen. Zu einer Änderung der Bedingungen führt jedoch keine dieser Aktionen.

 

Für den Abend ist im Circus Busch eine Vollversammlung der etwa 3000 Berliner Arbeiter- und Soldatenräte einberufen. Sie soll die neue Regierung, den Rat der Volksbeauftragten, bestätigen. Auch Liebknecht kommt. Er wird stürmisch begrüßt. Als er jedoch gegen die Mehrheitssozialisten vom Leder zieht, vor jenen warnt, die „heute mit der Revolution gehen und vorgestern noch Feinde der Revolution waren“ und droht „Die Gegenrevolution ist auf dem Marsche, sie ist bereits in Aktion“, wird er mit stürmischen Rufen nach Einigkeit niedergebrüllt.

Der Rat der Volksbeauftragten wird mit großer Mehrheit akzeptiert, über den von den Obleuten ins Spiel gebrachten Kontrollausschuss heftig diskutiert. Während ihn die SPD für völlig überflüssig hält, möchte Emil Barth ihn nur mit Anhängern einer Räterepublik besetzt haben. Die versammelten Räte – vor allem die der Soldaten – jedoch votieren auch hier für ein paritätisch besetztes Gremium. So entsteht der Vollzugsrat des Arbeiter- und Soldatenrates Groß-Berlin  als Kontrollorgan der Regierung, den sechs Volksbeauftragten. Er besteht aus 28 Mitgliedern. 14 Soldaten- und 14 Arbeiterräten. Von diesen sollen 7 aus den Reihen der SPD und 7 von der USPD kommen. Doch die USPD tritt all ihre Plätze an die Revolutionären Obleute ab. Außerdem wird Richard Müller, der noch vor Emil Barth die dominierende Figur bei den Obleuten ist, zum Vorsitzenden gewählt. Sein Stellvertreter ist zunächst der Pazifist Hans Georg von Beerfelde. Als der aber zwei Tage später versucht, Kriegsminister Schëuch verhaften zu lassen, wird er durch Brutus Molkenbuhr ersetzt, einen Soldatenrat mit SPD-Parteibuch. Trotzdem wird der Vollzugsrat in der Folge vor allem ein Werkzeug der Obleute sein, während die SPD ihn zu umgehen trachtet.

Erster Beschluss des Rates ist, im Dezember einen Reichsrätekongress in Berlin abzuhalten. Außerdem wird Otto Wels zum Stadtkommandanten ernannt. In der abschließenden Erklärung finden sich dann auch noch einiges dezidiert Sozialistisches wie ein Gruß an die „russischen Arbeiter und Soldaten, die auf dem Weg der Revolution vorangeschritten sind“, die Aussicht auf eine rasche und konsequente Vergesellschaftung der kapitalistischen Produktionsmittel sowie der Beschluss, wieder völkerrechtliche Beziehungen zur russischen Regierung aufzubauen.“

Mit dem Ergebnis sind beide Seiten unzufrieden. Ebert sieht die ganze Revolution nach wie vor als ein ebenso gefährliches, wie überflüssiges Störfeuer auf dem Weg zu einer parlamentarischen Demokratie an. Die Zusammenarbeit mit den Obleuten ist für ihn nur ein Manöver, um ihren revolutionären Elan zu bremsen und zu kontrollieren. Die Revolutionären Obleuten dagegen sind mit ihrem Ziel, Ebert zu entmachten und selbst die Kontrolle über die Revolution zu übernehmen, gescheitert.

Der SPD-Abgeordnete Hermann Molkenbuhr (Vater von Soldatenrat Brutus) jedoch notiert in seinem Tagebuch: „Ein Stein fiel mir vom Herzen, als ich heute las, dass Haase und Genossen neben Ebert und Scheidemann in die Regierung eingetreten sind. Dadurch ist die Bolschewikitruppe gespalten. … Das Regieren wird nicht erleichtert, aber es ist besser, die Reibungen sind im Sitzungszimmer des Kabinetts als auf der Straße.“

Den einstigen Koalitionspartnern in der Regierung Baden geht es ähnlich. Theodor Wolff bedauert im Berliner Tageblatt, dass die Bürgerlichen nicht mehr in der Regierung sind, erklärt aber, „Aber niemand kann leugnen, dass jetzt auch die Teilnahme der Unabhängigen von allerhöchster Wichtigkeit war. Wenn sie außerhalb der Regierung blieben, der Kampf zwischen den Anhängern der beiden großen Gruppen sich fortsetzte, war die Wiederherstellung der Ordnung fast unmöglich gemacht. … Man muss anerkennen, dass sowohl die um Ebert und Scheidemann wie die um Haase und Ledebour Überzeugungsopfer gebracht haben und mit dem gleichen Überzeugungsopfer muss jeder an der dringenden Rettungsarbeit mithelfen, soweit er es vermag.“

 

Unterdessen erreicht die Revolution auch das Ruhrgebiet und den deutschen Osten. Gleichzeitig verlieren weitere deutsche Fürsten ihren Thron: König Friedrich August III. von Sachsen, angeblich mit den Worten „So, so – na da macht eiern Drägg alleene!“, der extrem unbeliebte Großherzog Wilhelm Ernst von Sachsen-Weimar-Eisenach, Großherzog Friedrich August von Oldenburg, Herzog Bernhard III. von Sachsen-Meiningen, ein Schwager Wilhelms II., und Fürst Heinrich XXVII. von Reuß, bislang Herr über ein thüringisches Mini-Reich von 827 Quadratkilometern rund um Gera und Schleiz. Der liberale Großherzog von Baden darf vorerst bleiben, „um den Übergang nicht allzu schroff zu gestalten“ und sein Vetter Max, der gewesene Reichskanzler, wird vom örtlichen Arbeiter- und Soldatenrat mit Hochrufen empfangen, als er mit dem Zug in Karlsruhe eintrifft. Unterwegs hat er noch seinen seinem abgesetzten Braunschweiger Schwager Ernst August und dessen Gattin, die Kaisertochter Viktoria Luise, eingesammelt.

 

In Berlin ereilt seinen Nachfolger Ebert am Abend ein Anruf des neuen Chefs der OHL. Auch Wilhelm Groener will möglichst schnell wieder geordnete Verhältnisse und auf keinen Fall eine proletarische Revolution nach russischem Vorbild. Er verspricht Ebert, die Truppen nach dem Waffenstillstand geordnet von der Front abzuziehen und sagt ihm die Loyalität der Reichswehr für seine Politik zu. Dafür verspricht Ebert, dass es zu keiner Entwaffnung kommt und die Befehlsgewalt weiter bei den Offizieren, nicht bei den Soldatenräten ruhen soll. Bei diesem Gespräch, das später zum geheimen Ebert-Groener-Pakt stilisiert werden wird, geht es in erster Linie nicht um eine militärische „Verwendung“ der Truppen durch die Regierung, sondern wieder mal um „Ruhe und Ordnung“. Noch sind rund 4 Millionen Soldaten in Belgien und Frankreich, weitere 1,3 im Osten müssen aber nach dem gerade in Compiègne verhandelten Waffenstillstandsabkommen extrem schnell abgezogen werden. Dazu braucht es den militärischen Apparat der OHL, wenn man nicht riskieren will, dass sich die Truppen auf eigene Faust in die Heimat durchschlagen müssen, bzw. in großer Menge in Kriegsgefangenschaft geraten. Außerdem wollen es weder Groener noch Ebert zu bewaffneten Auseinandersetzungen in Deutschland kommen lassen. Ebert verspricht, dass es die vom Spartakusbund angestrebte Entwaffnung der heimkehrenden Soldaten nicht geben wird, Groener versichert, dass sie nicht nötig sei. Für Ebert ist die Absprache eine logische Konsequenz, da er und Groener im Grunde das gleiche Interesse haben. Für die kommunistische Seite ist der „Pakt“ Verrat, da Ebert einem Spitzenvertreter des preußischen Militarismus mehr vertraut hat als den linken Arbeitervertretern und weil er damit die unter Umständen auch gewaltsame Durchsetzung weiterer sozialistischer Pläne – die Ebert aber auch gar nicht wollte – verhindert hat. Allerdings verstand es Groener, Ebert in der Folge sehr zu vereinnahmen. „Von da ab besprachen wir uns täglich abends auf einer geheimen Leitung zwischen Reichskanzlei und Heeresleitung über die notwendigen Maßnahmen“, hielt er in seinen Erinnerungen fest. Entgegen späterer Legenden war die Verständigung zwischen Heeresleitung und Regierung aber zu keiner Zeit geheim. Das amtliche Wolffsche Telegraphenbüro meldet noch am gleichen Tag, Generalfeldmarschall Hindenburg habe sich „in einem Telegramm an die neue Regierung mit der Armee zu ihrer Verfügung gestellt, um ein Chaos zu vermeiden.“ Außerdem teil das Große Hauptquartier mit, dass auch an der Front ein Soldatenrat gebildet worden sei.

 

Viele Bürger sind mit dem Verlauf der Revolution äußerst zufrieden. Der Theologe Ernst Troeltsch hält fest, dass die Leute wie üblich im Grunewald spazieren gehen würden, zwar mit etwas gedämpfter Laune, aber doch beruhigt, wie gut alles abgegangen sei. „Auf allen Gesichtern stand geschrieben: Die Gehälter werden weiter bezahlt.“ Und der Münchner Schriftsteller Thomas Mann konstatiert: „Die deutsche Revolution ist eben die deutsche, wenn auch Revolution. Keine französische Wildheit, keine russisch-kommunistische Trunkenheit.“

Kaiser Wilhelm aber verlässt an diesem Tag Spa und flieht aus dem besetzten Belgien nach Amerongen in die Niederlande, wo er Königin Wilhelmina um Exil bittet. Manche seiner Offiziere werfen ihm deswegen später Fahnenflucht vor, da er ihrer Auffassung nach zu diesem Zeitpunkt immer noch der oberste Kriegsherr war. Königin Wilhelmina jedoch gibt nach zweitätigem Zögern seiner Bitte nach. Kaiserin Auguste Viktoria und ihre Schwiegertochter Kronprinzessin Cecilie befinden sich noch im Neuen Palais in Potsdam – unter dem Schutz von Vertretern des dortigen Soldatenrates.

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