Christa Pöppelmann > November 1918 > Sonntag, der 19. Oktober 1919
Sonntag, der 19. Oktober 1919
Auch der liberale Abgeordnete und kurzzeitige Reichsschatzminister Georg Gothein befasst sich im Berliner Tageblatt mit der ebenso desaströsen wie verzwickten Finanzlage des deutschen Reiches. Er fordert dringend eine allmähliche Anpassung der Preise an das Weltmarktniveau, fürchtet aber, dass die Minister Matthias Erzberger (Finanzen) und Robert Schmidt (Wirtschaft), der Mut dazu verlassen habe, da erst kürzlich die Freigabe der Lederbewirtschaftung zu erheblichen Preissteigerungen führte.
Vorher aber, so führt Gothein aus, seien mehr als 60 Prozent der anfallenden Häute in den Schwarzhandel gegangen und vielfach ins Ausland verschoben worden. Die Regierung habe dann fehlende Häute zu Weltmarktpreisen einkaufen müssen, intern aber zu den künstlich niedrig gehaltenen Preisen verteilt. Ähnlich sehe es auf vielen anderen Gebieten aus, auf denen immer noch Zwangsbewirtschaftung herrsche. „Dreieinhalb Milliarden werden jetzt wieder für sechs Monate gefordert, um die Lebensmittelpreise niedrig zu halten. Aus den laufenden Einnahmen des Reiches sind sie nicht zu decken; sie müssen durch Pump aufgebracht werden. Wie lange hält das der Kredit des Reiches aus?“ Auch bestehe die Gefahr, dass die Alliierten, die ein Kontrollrecht über die Finanzen hätten, dies eines Tages untersagen und fordern, dass die Summen für die Wiedergutmachung verwendet werden müssen. „In der feindlichen Presse, selbst der Amerikas, werden solche Stimmen bereits laut, und sie fehlen auch nicht in den neutralen Ländern.“
Gothein fordert, vor allem die Kohlenpreise schrittweise den Weltmarktpreisen anzupassen. Denn der Versailler Vertrag fordert die Lieferung von 43 Millionen Tonnen an die ehemaligen Kriegsgegner zu einem Preis, der nicht höher als der inländische Grubenpreis liegen dürfe. Eine Heraufsetzung des Kohlenpreises auf das Zweieinhalbfache, so rechnet Gothein vor, könne nicht nur zu Mehreinnahmen von bis zu 14 Millarden Papiermark führen, sondern auch zu einer spürbaren Aufwertung der Währung, die dann den Einkauf von Nahrungsmitteln und Rohstoffen im Ausland billiger mache. „Man kann natürlich den Inlandskohlenpreis nicht mit einem Schlage auf das Doppelte und Dreifache erhöhen; das würde alle Kalkulationen der Industrie über den Haufen werfen, würde die Masse der Konsumenten erbittern. Aber schrittweise muss man ihn dem Weltmarktpreis annähern. Das ist umso notweniger, als die jetzigen Kohlenpreise nicht entfernt die Selbstkosten decken, wir also unseren Feinden über unsere Verpflichtung hinaus noch Riesengeschenke machen.“
All das bedeute natürlich eine Verteuerung der Lebenshaltung. Deswegen müssten auch Löhne und Gehälter steigen. Zuvorderst aber sei es nötig, Lohnvereinbarungen aufgrund von Indizes zu treffen, sonst käme man aus den ständigen Lohnkämpfen bei fallender Währung nicht heraus. In Großbritannien sei dies schon lange üblich. „Wir müssen unbedingt zu ddemselben System kommen.“ Was den Arbeitern aber recht sei, sei den Angestellten und Beamten billig. „Unsre Beamtengehälter können angesichts des Sinkens des Kaufwertes der Mark ohnehin nicht auf dem jetzigen Niveau belassen werden, soll nicht unser Beamtentum durch die Not der Korruption zugeführt werden.“ Für die Unternehmer aber fordert Gothein mehr Freiheiten. Wer im Ausland noch genug Kredit habe, sich Rohstoffe, die der Zwangsbewirtschaftung unterliegen, zu beschaffen, solle dies auch tun dürfen. Und die Preisprüfungsstelle, die verhindern soll, dass Waren unter Weltmarktpreis ins Ausland verkauft würden, sei ein unnötiger Bremsapparat . „Vor dem Kriege hat man mit Recht die Tatkraft und Klugheit unseres Ausfuhrhandels gepriesen. Es ist doch nicht anzunehmen, dass er in fünf Kriegsjahren so vertrottelt ist, dass man ihn unter Vormundschaft und Zwangsverwaltung stellen muss.“
Unterdessen verzögert sich die Umsetzung des Versailler Friedensvertrages weiter. Entscheidend ist jedoch nicht, dass die US-Amerikaner immer noch darüber streiten, ob sie ihn überhaupt ratifizieren sollen, sondern dass die Alliierten erst noch die Modalitäten beraten, wie die Besetzung der künftigen Abstimmungsgebiete erfolgen soll, um geordnete Volksentscheide garantieren zu können. Auch in Deutschland sollen alliierte Kommitees die Umsetzung der Bedingungen überwachen. Für die Unterbringung der gewaltigen Delegationen wird die Überlassung zahlreicher Luxushotels in den betreffenden Städten gefordert sowie die Bereitstellung von genügend Autos. Die für Deutschland damit verbundenden Kosten werden auf 2,5 Milliarden Mark im Jahr geschätzt. Vor allem die Größe der künftigen Besatzungstruppen und Überwachungsdelegationen mit insgesmat rund 450.000 Mann wird in Deutschland als maßlos überzogen empfunden. Die Hotelbranche kämpft dafür, dass keine ganzen Häuser, sondern nur einzelne Etagen für die Delegationen zur Verfügung gestellt werden, damit die Hotels ihre Stammgäste nicht verlieren. Ohnehin gilt das Angebot an Hotelbetten in Deutschlands als viel zu niedrig, da viele Betreiber während des Krieges aufgegeben und die gesamte Einrichtung verkauft haben, um sich über Wasser zu halten.