Christa Pöppelmann > November 1918 > Sonntag, der 2. November 1919
Sonntag, der 2. November 1919
Professor Heinrich Gerland, stellvertretender Vorsitzender der Deutschen Demokratischen Partei, ruft im Berliner Tageblatt zum entschiedenen Kampf gegen den Antisemitismus auf. „Dass zurzeit eine Hochwelle des übelsten Antisemitismus durch das deutsche Volk geht, kann nicht bezweifelt werden. … Die Frage, die für die Demokratie entsteht, kann nur die sein, wie sie den Antisemitismus bekämpft. Denn dass sie ihrem Wesen nach den Antisemitismus bekämpfen muss, liegt in ihrem ureigensten Wesen … Jedes Paktieren ist hier vollkommen ausgeschlossen, ja man kann ohne Übertreibung sagen, dass die Stellung zum Antisemitismus der eigentliche Prüfstein für eine wirkliche demokratische Auffassung ist.“ Welche Taktik aber ist die richtige? Gerland erteilt der Strategie, auch auf die jüdischen Beziehungen der Rechten hinzuweisen, dem ganzen durch Ignorieren den Stachel nehmen zu wollen, aber auch vernünftig argumentieren zu wollen, eine Absage. „Allein gegen Sentiments kämpft sich schlecht, wenn überhaupt mit Reflexion. Uns so glaube ich, wird diese ganze Aufklärungsarbeit sehr wenig Erfolg haben gegenüber der einfachen, sattsam bekannten Taktik der Gegner: ‚Tut nichts, der Jude wird verbrannt.‘ So bleibt meiner Ansicht nach nur ein Mittel übrig, diese schmachvollste Erscheinung unserer Zeit, den Antisemitismus zu bekämpfen, das ist, dass wir selber mit rücksichtsloser Energie zum Angriff gegen ihn vorgehen und ihn in seiner ganzen nackten, unerhörten, brutalen, kulturwidrigen Rechtlosigkeit brandmarken. … Sagen wir doch endlich mal die Wahrheit, sagen wir doch, dass dieser Antisemitismus die größte Kulturschande ist, die sich augenblicklich in Deutschland breit macht! Schlagen wir dem Gegner die Quart ins Gesicht, die er verdient und fürchten uns nicht, eine Behauptung auszusprechen, die dem letzten Gedanken unseres Programmes einzig entspricht, die Behauptung des Rechtes! Denn das ist es, was den Antisemitismus so unerträglich macht, dass große Kreise der seit Jahrhunderten in Deutschland lebenden Bürger plötzlich außerhalb des Gesetztes gestellt werden sollen, dass die Zufälligkeit der Abstammung und Geburt ausschlaggebend sein soll, und dass der Gedanke der Gleichberechtigung, in Fetzen zerrissen, in sein Gegenteil verkehrt wird…. Aber die Wähler! So höre ich manchen … bange fragen. Mit Verlaub! Hier kommt es nicht darauf an, ob derartige entsetzliche Tendenzen bereits subversiv auch in unsere eigenen Kreise eingedrungen sind. Wer Politik treiben will, muss führen können und muss auch das Odium auf sich nehmen, dass seine Gedanken zunächst vielleicht einen Sturm des Widerspruchs hervorrufen … Wer in Fragen, wie den vorliegenden schweigt, ist kein Führer. Der lässt sich treiben von den Stimmungen der Massen und der ist nicht anders wie jene, die während des Krieges am meisten dadurch geschadet haben, dass sie es nicht wagten, dem Militarismus ihre eigene Auffassung mit Energie entgegenzuhalten, sondern sich stets gebeugt und geschwiegen haben.“