Sonntag, der 9. November 1919

Der Jahrestag der Revolution! Kein Feiertag in Deutschland. Für die Rechten ist es ein schwarzer Tag. Die Liberalen finden, das angesichts des Leidens an den Kriegsfolgen Feiern unangemessen seien. Wenn der Frieden erst einmal wirklich durchgesetzt sei, solle man den Jahrestag der neuen Verfassung feiern. Ein Antrag der USPD, in den Schulen Revolutionsfeiern abzuhalten und die Kinder über die Bedeutung des Tages aufzuklären, wird abgeschmettert.

In Berlin und vielen anderen Städten sind Demonstrationen unter freiem Himmel vorsorglich verboten worden. So finden am Vormittag nur Versammlungen von SPD und USPD statt. Die SPD-Redner wie etwa Philipp Scheidemann im Berlin-Steglitzer Schlosspark verteidigen das Regierungshandeln, die der USPD verdammen es teilweise in Grund und Boden. Georg Ledebour schwört seine Zuhörer im Berliner Walhallatheater auf die Weltrevolution ein.

 

Das Berliner Tageblatt liegt ganz auf liberaler Linie. Theodor Wolff schreibt von einer seltsamen Revolution an grauen, trüben Novembertagen. „Als alle Siegesverheißungen sich als falsch erwiesen, als das nicht klug zum Ertragen schwerer Unglücksbotschaften erzogene, sondern nur zum Hurrajubel angeleitete Volk die Täuschung erkannte … öffnete sich ein Abgrund, und alles Vertrauen, aller Drill, alle moralische Kraft stürzten in ihn hinein. … Noch heute täuscht man die Dummen mit der Behauptung, Flaumacher, Demokraten und ‚Defätisten‘ hätten im Laufe der Kriegsjahre den Widerstandsgeist geschwächt. Nein, sie allein haben sich bemüht Vernunft in den Wahnsinn zu bringen … Niemals wäre der seelische Zusammenbruch eingetreten, wenn ihre Methode ausschlaggebend gewesen wäre, statt der organisierten Verlogenheit.“ Mit genau dieser Verlogenheit werden den „Hirnschwachen“ heute eingeredet, an ihrem Elend seien nicht Krieg und Niederlage, sondern die Republik Schuld. Theodor Wolff warnt seine Leser vor zuviel Kritik an der aktuellen Politik und ruft stattdessen ebenfalls zu tatkräftigem Mitwirken auf. Egal, wie trübe das Licht der Revolution scheine: sie erst habe den Deutschen sowohl die Rechte, wie auch die schweren Pflichten mündiger Nationen gesichert.

 

Andere arbeiten trotz Jahrestag und Sonntag. Deutschen und polnischen Delegierten gelingt am Vormittag eine Einigung über einen geregelten Übergang in den abzutretenden Gebieten. Die deutschen Beamten, Volksschullehrer, Geistliche etc. sollen ihre Tätigkeit nach in Kraft treten des Friedensvertrages noch mindestens zwei Monate weiter ausüben können und in dieser Zeit polnischen Beamten völlig gleich gestellt sind. Das Aufenthaltsrecht erstreckt sich auch auf die Familien und das Personal der Beamten. Auf eine Enteignung verzichtet die polnische Regierung, obwohl sie laut Friedensvertrag, das Recht dazu hätte. Beamte, die gleich gehen wollen, ebenso Pensionisten oder Hinterbliebene von Beamten dürfen über ihr bewegliches Vermögen verfügen, Grund und Boden kann jedoch enteignet werden.

Und in Oberschlesien finden Kommunalwahlen statt. Im Gegensatz zu den Wahlen zur Nationalversammlung treten die Polen mit eigenen Parteien an und gewinnen vor allem auf dem Land teilweise haushoch. Das geht besondres zu Lasten von Zentrum und SPD, während die Deutschnationalen ihren Stimmenanteil in etwa halten können. Die vorherigen Gemeindeparlamente waren noch nach dem alten preußischen Dreiklassenwahlrecht gewählt worden. Die Alliierten werten die werten die Wahlen jedoch als Vorgriff auf spätere politische Regelungen, was laut Versailler Vertrag in den künftigen Abstimmungsgebieten verboten ist, und erklären sie für ungültig.

 

Das Wetter zeigt sich rau. Jedenfalls im Norden. Die Tagestemperaturen betragen im Schnitt – 5 Grad, nachts sinken sie teilweise bis – 10 Grad. Ostpreußen liegt bereits unter einem halben Meter Schnee begraben, in Berlin setzt gegen Abend heftiger, von eisigem Wind aus Norden begleiteter Schneefall ein. Südlich der Linie Münster – Dresden sieht es ganz anders aus. München verzeichet recht angenehme10 Grad, Straßburg sogar 11.

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