Mittwoch, der 23. Oktober 1918

Im Reichstag geht die Generaldebatte weiter. USPD-Führer Hugo Haase konstatiert, dass der Krieg unzweifelhaft verloren ist und alle weiteren Aufrufe zur nationalen Verteidigung unverantwortlich seien. Alle, die zu einer Fortsetzung des Krieges hetzten, würden Blutschuld auf sich laden. Er fordert eine sofortige Öffnung der Archive, um die Schuld am Kriegsausbruch und am Scheitern aller Friedensschritte während des Krieges festzustellen. Außerdem betont er, dass die Initiative zum Waffenstillstandsangebot von Hindenburg und Ludendorff ausgegangen sei. Vizekanzler Payer antwortet auf Klagen der konservativen Opposition, nicht zu Beratungen über die Friedensnote herangezogen worden zu sein, man habe dabei niemanden brauchen können, der heute noch mehr für einen Gewalt- als für einen Rechtsfrieden sei. Es brauche eine unzweideutige, ehrliche und gerade Politik, um das Vertrauen des Auslands und bis zu einem gewissen Grade auch das Vertrauen des Feindes zu erlangen, um Frieden zu bekommen. Deshalb sei eine klare Scheidung zwischen Vergangenheit und Gegenwart nötig und da Konservativen vierzig Jahre lang die Regierung gestellt hätten, könnten sie nun ruhig einmal vierzig Jahre lang kaltgestellt bleiben. Am nächsten Tag bekommt dann der linksliberale Abgeordnete Georg Gothein einen regelrechten Tobsuchtsanfall, weil die rechte Deutsche Tageszeitung prophezeit, die gegenwärtige Regierung werde sich als eine Regierung zur Verkleinerung des Landes erweisen. „Das ist der Gipfel von Zynismus und Verlogenheit“, poltert Gothein, „das ist das Tollste, was ich je erlebt haben. Die Leute, die allein die Schuld daran haben, dass wir in diese Lage gekommen sind, die alles getan haben, um einen brauchbaren Frieden zu verhindern, als er noch zu haben war, hätten alle Veranlassung solche Infamien zu unterlassen, zumal sie wissen, wie die Verhältnisse liegen. Diese Leute müssten sich jetzt an ihre Brust schlagen und sagen: Gott sei mir Sünder gnädig für das, was ich am deutschen Volke verbrochen habe. Diese Leute sollten, da sie mit ihrer falschen Politik uns bis hierher gebracht haben, anstatt patriotische Reden halten, auftreten und bekennen: mea culpa, mea maxima culpa.“

Auch der USPD- Abgeordnete Georg Ledebour betont, dass das Versprechen des am 9. Oktober neu ernannten preußischen Kriegsminister Heinrich Schëuch, man könne, wenn nötig, dem Vernichtungswillen der Feinde den deutschen Kampfeswillen entgegenstellen, sich nicht mit der Tatsache verträgt, dass Hindenburg und Ludendorff einen sofortigen Friedensschluss gefordert haben. „Es ist unverzeihlich von diesen Männern, dass sie Regierung und Volk nicht rechtzeitig über den bevorstehenden Zusammenbruch unterrichtet haben. Sonst hätte rechtzeitig eine andere Politik eingeschlagen werden können.“ Außerdem bestreitet er, dass eine Parlamentarisierung Deutschlands stattgefunden habe und sagt, es seien „lediglich einige Parlamentarier bürokratisiert worden. Dann fordert er noch die Abdankung Wilhelms II., wofür ihn Vizekanzler Friedrich von Payer scharf rügt.

 

In der Strafanstalt Luckau trifft ein Telegramm ein, dass Liebknecht freizulassen sei. Er fährt sofort nach Berlin. Als er gegen 17:30 Uhr dort eintrifft, herrscht schon „großer Bahnhof“. Außer von seiner Frau Sophie und dem Sohn Robert wird er von einer Abordnung der Linken, zu der Karl Kautsky und Hermann Duncker gehören, und einer großen Menschenmenge empfangen. Seine Anhänger feiern ihn mit Hoch-Rufen, nehmen ihn auf die Schultern und singen die Internationale. Schließlich steigt Liebknecht auf einen Pritschenwagen, der gefolgt von der Menge und nervösen Polizeitrupps zu Fuß und zu Pferd durch die Innenstadt fährt. Liebknecht hält an mehreren Stellen, etwa vor der Russischen Botschaft kurze Ansprachen, wobei er dazu aufruft, den russischen Revolutionären nachzueifern und die Rote Armee hochleben lässt. Die Polizei drängt den Zug mehrfach in eine andere Richtung, etwa als er Kurs auf das Reichstagsgebäude nimmt, schreitet aber nicht gegen Liebknecht selber ein. Seine Anhänger machen deutlich, dass sie das auch verhindern würden. „Wagt’s !“, schreien sie. „Liebknecht ist frei, nicht anrühren!“ Schließlich fährt Liebknecht im Auto zu seiner Wohnung. Am nächsten Tag gibt es für ihn in der russischen Botschaft Unter den Linden einen großen Empfang. Botschafter ist seit 1918 Adolf Joffe, ein Freund und Kampfgefährte Trotzkis, der vor dem Krieg in Berlin und Wien Medizin studiert hatte. „Die Befreiung des Vertreters der revolutionären Arbeiter Deutschlands aus dem Gefängnis ist das Zeichen einer neuen Epoche, der Epoche des siegreichen Sozialismus, die sich jetzt Deutschland wie auch der ganzen Welt eröffnet“, erklärt er. Liebknecht äußert, dass die russische Revolution in Gefahr sei, wenn ihr die deutsche nicht zur Hilfe komme. „Gelingt es dem deutschen Proletariat nicht, den Sieg zu erringen, dann verschlingt der Weltkapitalismus, der noch mächtig und ungebrochen dasteht, nach dem Gemetzel, die Welt.“ Begleitet werden diese Reden von einem luxuriösen Bankett, das nicht allen gefällt. Mathilde Jacob etwa, die Freundin und Sekretärin von Rosa Luxemburg, äußert sich angewidert.

 

Eine Veranstaltung der deutschen Friedensgesellschaft in Berlin, bei der die Frauenrechtlerin Helene Stöcker über das Thema „Weltfriede und Völkerbund“ sprechen soll, wird dagegen von der Polizei aufgelöst, weil sie keine Genehmigung erhalten hat, was bei den Anwesenden für große Erregung und Rufe wie „Das ist der neue Kurs!“ sorgt. Gerüchteweise soll eine hohe militärische Stelle für die Nichterteilung der Genehmigung schuld sein.

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