Freitag, der 1. November 1918

Das III. Geschwader erreicht gegen 2 Uhr morgens Kiel. Der Gouverneur der Stadt, Vizeadmiral Wilhelm Souchon allerdings würde das Einlaufen der Schiffe am liebsten verhindern. Denn in Kiel sind nicht nur 50.000 Militärangehörige stationiert. Es gibt auch eine Reihe von großen Werften und Zulieferbetrieben mit rund 100.000 Arbeitern und in denen organisieren die revolutionären Vertrauensleute gerade wieder einmal einen Streik zur schnelleren Durchsetzung des Friedens. Zusätzlich 5000 rebellische Matrosen kann Souchon da gar nicht gebrauchen. Der gebürtige Leipziger ist zudem eben erst zum Governeur von Kiel ernannt worden. Davor hat er ein bewegtes Leben auf See geführt. So lieferte er sich unmittelbar nach Kriegsausbruch ein abenteuerliches Rennen mit der britischen Royal Navy durch das Mittelmeer. Dass er mit den Schiffen Goeben und Breslau die Türkei erreichen konnte, hatte wesentlich zum Kriegseintritt des Osmanischen Reichs auf Seiten der Mittelmächte beigetragen. Aber jetzt kann Souchon das Einlaufen der Schiffe aus Wilhelmshaven nicht verhindern und ebenso wenig, dass die Offiziere den Mannschaften den bereits versprochenen Landurlaub gewähren, um kein zusätzliches Öl ins Feuer zu gießen.

 

Allerdings waren kurz vor dem Anlaufen in Kiel 47 der Haupträdelsführer der Revolte vom 29. und 30. Oktober festgesetzt. Ihre Kameraden treibt nun die Sorge um, was mit ihnen geschehen wird. Zwar sind Hinrichtungen sowohl in der deutschen Marine wie im deutschen Heer weit weniger üblich als bei den Kriegsgegnern, doch gerade aus dem III. Geschwader sind im Sommer 1917 der Matrose Max Reichpietsch und der Heizer Albin Köbis wegen Meuterei erschossen worden. Außerdem steht immer noch die Gefahr im Raum, dass die Seekriegsleitung durch weitere Aktionen den Friedenskurs der Regierung sabotieren könnte. Also treffen sich am Abend ungefähr 250 Matrosen im Gewerkschaftshaus mit den Kieler Arbeiterführern. Sie kommen überein, ein erneutes Auslaufen der Flotte auf jeden Fall zu verhindern. Eine Delegation, die zu den Offiizieren geschickt wird, um die Freilassung der Verhafteten zu fordern. Doch sie wird abgewiesen.

 

Unterdessen haben die meisten deutschen Länder nach dem Vorbildes des Reiches ebenfalls ihre Verfassungen und das Wahlrecht reformiert. „Es rausch in den Schachtelhalmen“, schreibt der linksliberale, sächsische Abgeordnete Alfred Brodauf im Berliner Tageblatt. „In dem patriarchalischen Sachsen, wo sich bisher das Gottesgnadentum in Reinkultur erhalten hat, wo bis jetzt auf den beschränkten Untertanenverstand eine Obrigkeitsregierung herabblickte, die ihren höchsten Stolz darin sah, Dienerin des Königs und nur ihm verantwortlich zu sein, hat sich über Nacht eine überraschende Wandlung vollzogen. Eine Neuordnung ist im Werden, mit deren Anfängen Sachsen die übrigen Bundesstaaten insofern überflügelt hat, als die ersten Sozialdemokraten in die Regierung eingetreten sind.“ Brodauf vermutet – zu Recht – dass hinter den Reformen der liberale sächsische Kronprinz Georg steckt.

Ausgerechnet in den beiden rückständigsten jedoch, den mecklenburgischen Großherzogtümern, schleppt sich der Prozess hin und verspricht keine wirkliche Demokratisierung: „Der Schandfleck Mecklenburg ist von Reichsgesetzgebung immer noch nicht beseitigt worden“, schreibt die Mecklenburgische Volkszeitung. „Sie versäumt ihre Pflicht, wenn sie die mecklenburgische Verfassungsschmach nicht beseitigt.“. Statt dessen beabsichtige man, „‚um den Landtag nicht vor den Kopf zu stoßen‘, die alten Stände in der neuen Verfassung für alle Zeiten zu verewigen!“

 

In Berlin schlägt sich der immer noch kranke Kanzler mit der Frage herum, ob eine Abdankung des Kaisers wirklich opportun wäre. Er lässt eine Anfrage an die Fürsten des deutschen Reiches richten, ob sie einem solchen Schritt zustimmen würden. In der SPD wird über eine Volksabstimmung in dieser Sache nachgedacht. Die Zentrumsnahe Germania schlägt stattdessen eine Abstimmung im Reichstag vor.

 

Im großen Saal der Berliner Philharmonie findet unterdessen ein Vortrag mit dem Titel „Der Bolschewismus als Weltgefahr“ statt. Referent ist ein Lehrer aus dem Elsass namens Eduard Stadtler. Er war als Soldat 1916 in russische Kriegsgefangenschaft geraten und hatte dort Russisch gelernt. Als er im Mai 1918 wieder freikam, diente er sich der deutschen Botschaft in Moskau als Russlandexperte an. Dort verbrüderte er sich dann mit einer Gruppe von deutschnationalen, antisemitischen Botschaftsangehörigen, die eine sofortige militärische Intervention zugunsten der antibolschewistischen Kräfte in Russland, der sogenannten „Weißen Armee„, propagierten. Im August ist er nach Deutschland zurückgekehrt, um in Vorträgen vor der Gefahr des Bolschewismus zu warnen. Was seine Zuhörer nicht wissen, das ist, dass diese Vorträge vom Kriegspresseamt finanziert werden. Dieses Amt wiederum untersteht dem militärischen Nachrichtendienst der deutschen Armee. Vor dem Krieg hat dieser noch eine recht untergeordnete Rolle gespielt und auch seine Leistungen bei der Auslandsaufklärung während des Krieges waren eher dürftig und von zahlreichen Pannen und Irrtümern geprägt. Dafür aber hat sein Chef Walter Nicolai den Dienst ab 1917 zu einem wichtigen Baustein der Ludendorffschen Militärdiktatur gemacht und ihn in eine Art Geheimpolizei umfungiert, die in Deutschland selbst agierte. Nicolai hatte V-Leute in Betrieben und Behörden. Ihm unterstand die Oberzensurstelle, die jeglichen missliebigen Artikel verbieten und unbotmäßige Journalisten maßregeln konnte und er inszenierte Kampagnen nationalistischer „Volksempörung“, wo immer ein linker oder gemäßigter Politiker für einen Verständigungsfrieden zu werben wagte. „Eine derartige Gewaltsamkeit durch Illusionen alles zu erzwingen, war mir noch niemals vorgekommen“, erklärte der Theologe Ernst Troeltsch nach einem Gespräch mit Nicolai. Nun allerdings sind Nicolais Tage gezählt. Max von Baden wird ihn beurlauben und danach gelingt es ihm nie wieder, im Geheimdienst Fuß zu fassen, obwohl er sich auch in Ländern wie Finnland, der Türkei oder Japan andient. Trotzdem werden ihn die Sowjets nach dem Zweiten Weltkrieg für die graue Eminenz hinter der NS-Spionage halten und nach Moskau verschleppen, wo er in einem Gefängnishospital stirbt.

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