Christa Pöppelmann > November 1918 > Mittwoch, der 11. Dezember 1918
Mittwoch, der 11. Dezember 1918
Das Gezänk in Deutschland, vor allem der Streit zwischen den drei linken Strömungen, wird auch im Ausland wahrgenommen und schlägt sich etwa in Zeitungskarikaturen nieder, in denen Vertreter aller Richtungen wie Kleinkinder wild aufeinander losdreschen. Anstatt sich mit dem Standpunkt der einzelnen Richtungen zu befassen, erscheinen sowohl deutsche Regierung wie auch Opposition als unfähige Diletanten. Ein Mitglied englischen Waffensstillstandskommission, die in Wilhelmshaven die deutschen Kriegsschiffe mustert, äußert sich danach erstaunt, wie ruhig und geordnet alles abegangen sei. Angesichts der Zeitungsberichte habe man bolschewistische Zustände vermutet.
Tatsächlich sind sich die Allierten uneins, ob sie mit der gegenwärtigen Regierung Friedensverhandlungen aufnehmen sollen. Offiziellen diplomatischen Verkehr hat es jedenfalls seit dem Waffenstillstand nicht mehr gegeben. Die Kommunikation läuft vor allem über die jeweiligen Unterhändler. Diese werden ab Donnerstag in Trier zu Verhandlungen über die Verlängerung des Waffenstillstandes zusammenkommen. Angesichts dessen wachsen in Deutschland die Stimmen, die eine Wiedereinberufung des Reichstages von 1912 als ordnungsgemäß gewähltem Organ fordern. Auch Reichstagspräsident Constantin Fehrenbach interpretiert die Signale der Kriegsgegner so, dass sie ein gewähltes Parlament als Voraussetzung für einen Vorfrieden sehen. Also bearbeitet er Ebert, den Reichstag wiedereinzuberufen. Am 12. November tut er es dann selber, aber ohne Zeit und Ort zu nennen. Auf viel Resonanz stößt er aber nicht. Selbst ausgewiesene Anhänger des Parlamentarismus wie Theodor Wolff wenden ein, dass das Gremium nicht mehr das aktuelle Deutschland repräsentiert. Andere verweisen darauf, dass am 16. Dezember die Reichstagung der Arbeiter- und Soldatenräte beginnen wird, deren Vertreter ebenfalls vom Volk gewählt wurden.
Die verwirrende politische Situation geht mit einer Flut von Plakaten einher. Was Alfred Polgar im Berliner Tageblatt für Wien schreibt, dürfte für die deutschen Großstädte nicht viel anders gelten: „Die Revolution brachte einen gewaltigen Aufschwung des politischen Plakats. Es überzieht seit Wochen wie eine buntpapierene Flechte die Häuserwände. Es schreit, bittet, droht, ermuntert, fordert, warnt, teilt mit, beschwört in vielen Farben, Lettern, Größen, Stilen. Ein gefrorener Wasserfall politischer Rhetorik hängt über allen Mauern. Wellen stummen Lärms schlagen von recht und links nach dem Straßenwandler. ‚Bürger!‘ ruft es lautlos – laut. ‚Arbeiter!‘, ‚Soldaten!‘, ‚Juden!‘, ‚Angestellte!‘, ‚Heimkehrer!‘, ‚Frauen!‘, ‚Arbeitslose!‘ Es gibt solche Plakate, die sind wie angeklebte Trompetenstöße: kurz, gellend. Andere haben Leitartikelausdehnung. Eins hängt da; ‚An die Soldaten!‘ Es ist ein ganzes eng gesetztes Buch auf einer Seite. Niemand hat es ausgelesen. Es soll sehr spannend sein. Ein Plakat richtet sich an die Plünderer. In faustgroßen gotischen Lettern wird ihnen mit der Todesstrafe gewunken. Das bürgerliche Portemonnaie atmet auf, es kann ihm nix g’geschen. Von den Soldaten wünschen die durcheinander sprechenden Affichen vieles. Sie sollen trauen und sollen misstrauen, sie sollen dies tun und dies nicht tun, sie sollen dahin gehen, sie sollen dorthin gehen. Es ist ein rechtes papierenes Gedränge um die Armen! Die Straße: eine senkrecht ausgebreitete Zeitung. Wer täglich die Herrengasse list, bekommt wohl kalte Füße, ist aber so ziemlich auf dem Laufenden.“