Christa Pöppelmann > November 1918 > Mittwoch, der 1. Januar 1919
Mittwoch, der 1. Januar 1919
Die Menschen feiern den Jahreswechsel. Alle drohenden Probleme können die schon während des Krieges ausgebrochene Tanzwut nicht dämpfen. „Die Musik spielt in hunderten von Lokalen. Tänze über Tänze, Walzer, Foxtrott, Onestep, Twostep, und die Beinen rasen wie verhext über die Diele, die Röcke fliegen, der Atem jagt. Sektpfropfen knallen … Arme fuchteln begeistert in der Luft und das Prosit Neujahr klingt über die Straßen, in denen eben noch der Schritt der Demonstranten klang“, berichtet das Berliner Tageblatt. „Nie ist in Berlin so viel, so rasend getanzt worden. Zwischen Dreivierteltakt und Straßenwirrwarr, zwischen Konfetti und roten Fahnen gleiten die Paare ins neue Jahr. … Mit dem Fallen des Tanzverbots stürzt sich das Volk wie ein Rudel hungriger Wölfe auf die langentbehrte Luft, und nichts kann ihm seine Festesfreude stören.“ Dennoch ist die politisch brisante Lage zu spüren. „Die Luft ist elektrisch aufgeladen, eine politische Hochspannung ohnegleichen. Der Boden von Berlin glüht.“
Vielerorts wird auch mit scharfer Munition geböllert. Auch in Berlin, wo der Polizeipräsident zum 30. Dezember 1918 verboten hat, dass irgendjemand, der nicht von Amts wegen dazu ermächtigt ist oder einen Waffen- bzw. Jagdschein vorweisen kann, Waffen tragen oder Munition kaufen darf.
In Berlin verteilen die nationalliberale Deutsche Volkspartei und die rechte Deutschnationale Volkspartei nach dem Neujahrsgottesdienst Wahlwerbung an den Kirchenausgängen. Pfarrer Lic. Dr. Auer von der Trinitatiskirche empört nicht nur die Aktion an sich, sondern der Inhalt und er verschafft sich in einem wütenden Leserbrief Luft: „Abgesehen von dem unerträglichen Phrasenschwall und dem sachverdrehten Schelten auf „die nichtdeutschen Elemente“, die uns in den Abgrund gestürzt hätten – waren Tirpitz und Ludendorff etwa keine Deutschen? – empört mich das Getue mit deutschem Wesen und deutscher Würde. Wo war denn euer Gefühl für deutsche Würde, ihr Männer der Deutschnationalen und der Deutschen Volkspartei, als unsere militaristische Gewaltpolitik alle Verträge brach? … Wo war eure Achtung vor dem deutschen Volk, als eure Führer ihm leichtfertige Siegesphantasien vorzugaukeln … für gut befanden? … Nicht minder empört mich die religiöse Draperie jener Wahlaufrufe. Wo war denn euer Christentum während des Krieges? Hat eure Presse, die Friedenswilligen, die es in aller Welt gab, gestärkt oder hat sie nicht vielmehr nur Hass und Rachgier im Inneren wie beim Feind geschürt? Eurer ‚Christentum'“ vertrug sich so wohl mit annektionistischer Vergewaltigung des Rechts und beschimpfte mit leichtem Spott die heiligen Ideen des Völkerbundes und Weltfriedens. Euer ‚Christentum‘ war nichts als nationalistischer Siegesglaube und weit entfernt von dem echt religiösen Glauben, dem Demut und Ergebung wesentlich sind. … Man sucht den braven Kirchenchristen graulich zu machen. ‚Die Kirche ist bedroht! Unser Heiligstes ist in Gefahr! Die christliche Religion soll aus dem Herzen des Volkes gerissen werden!‘ Nun, ihr rettet sie nicht – weder durch erzwungenen Religionsunterricht noch durch eure betonte Kirchlichkeit. Die Religion Jesu trägt die Kraft der Wahrheit in sich und kann darum nicht untergehen.“