Christa Pöppelmann > November 1918 > Sonntag, der 19. Januar 1919
Sonntag, der 19. Januar 1919
Es ist Wahltag! Erstmals dürfen auch Frauen wählen. Ebenso aktive Soldaten, die bisher von der Stimmabgabe ausgeschlossen waren. Das Mindestalter wurde von 25 auf 20 Jahre gesenkt. Damit sind 36,76 Millionen Menschen wahlberechtigt. 83 Prozent davon geben auch tatsächlich ihre Stimme ab. Das sind geringfügig weniger (- 1,9 %), als bei der letzten Vorkriegswahl. Die Zahl der Männer und Frauen, die zur Wahl gehen, hält sich in etwa die Waage, junge Erstwähler sind nach Einschätzung mancher Beobachter besonders zahlreich vertreten. Vor den Wahllokalen bilden sich lange Schlangen. Viele müssen zwei, drei Stunden bei eisiger Kälte warten, um ihre Stimme abgeben zu können. Aus Westpreußen heißt es, so stark sei der Andrang noch bei keiner Reichtagswahl gewesen. Bis Mittag hätten schon drei Viertel aller Wahlberechtigten ihre Stimme abgegeben und vor allem die Frauen würden fast restlos an der Wahlurne erscheinen.
Die SPD macht sich trotz der Unruhen der vergangenen Wochen, der Enttäuschung und auch Empörung über das Agieren von Ebert und Noske, große Hoffnungen. Denn im Herbst 1918 hat es einen gewaltigen Zustrom an neuen Mitgliedern gegeben, so dass die Partei nun wieder über eine Million Genossen zählt. Die „Neuen“ sind aber meist keine Arbeiter, sondern vor allem Landarbeiter und Angestellte.
Bei den bürgerlichen Parteien geht es vor allem darum, eine absolute Mehrheit der linken Parteien zu verhindern und mitregieren zu können. Es dürfe, nachdem die konservative Allmachte gebrochen sei, nicht wieder zur Herrschaft einer Klasse kommen, schreibt Theodor Wolff im Berliner Tageblatt. „Es ist unmöglich, dass die Spitze der Regierung, dass alle Höhenstationen rein sozialdemokratisch bleiben und dass eine nichtsozialistische Unterschicht aus Staatssekretären und Verwaltungsbeamten die tägliche Arbeit besorgt. Auf die Dauer kann so nicht regiert werden, und die Nicht-Sozialisten, die jetzt, in der Übergangszeit, sich den sozialdemokratischen ‚Volksbeauftragten‘ zur Verfügung gestellt haben und ohne politischen Einfluss mithelfen, werden das auch nicht ewig fortsetzen wollen.“ Aber natürlich, so Wolff weiter seien auch „die Reaktionäre, die Großannexionisten von gestern, die Urheber der amerikanischen Kriegserklärung und die Volkstäuscher“ untauglich für demokratische Zukunftspolitik, auch wenn sie wagten, „heute schon wieder als Hüter der nationalen Interessen sich aufzuspielen“ und „wie der Spartacus-Mob mit Handgranaten werfen sie mit ihrem Lieblingswort ‚antinational“ herum.“ Wer für sie stimme, der unterstütze eine Politik, die im besten Falle unfruchtbar bleiben würde, die aber – falls mit Hilfe des Zentrums eine reaktionäre Mehrheit zustande komme – zu einem Bürgerkrieg führen müsse, da sich dann alle sozialistischen Parteien zur Rückeroberung der verlorenen Position zusammentäten. Nur die Deutsche Demokratische Partei – für die Theodor Wolff und das Tageblatt seit Wochen ganz unverhohlen Wahlwerbung machen – könne zusammen mit den Sozialdemokraten das Reich aus den Wirren erlösen und einer besseren Zukunft zuführen. „Wir wollen nicht die sozialdemokratische Alleinherrschaft, aber wir wollen, da eine völlige Verdrängung der auf die Arbeiterschaft und die Soldaten sich stützenden Regierung die unheilvollsten Folgen haben müsste, nach den Wahlen ein ehrliches Vernunftbündnis mit den zu solchem Bündnis geeigneten Kräften der Sozialdemokratie. Wir wollen nicht den Sieg einer Reaktion zulassenn, die in ihrem Übermut, ihrer Leichtfertigkeit und ihrer Unfähigkeit das deutsche Volk in den Blutsumpf getrieben hat, und wir wolle nicht, nachdem, wir eben den Straßenterror überstanden haben, das unausbleibliche Eregebnis eines antirepublikanischen, reaktionären Aufstieges, neue schlimmere Unruhen und Bürgerkrieg.“ Für Wolff kam es auch keineswegs von ungefähr, dass die Spartakisten vorwiegend liberale Zeitungsredaktionen besetzten, um mögliche Aufklärung vor der Wahl zu verhindern, während sich die „deutschnationale Propagada“ beinahe ungehindert hätte austoben dürfen. „Neben fast jedem deutschnationalem Aufruf hätte einer jeder Näpfe stehen müssen, die zum Gebrauch für Seekranke neben den Betten der Schiffskabinen stehen. “
Die rechte Deutschnationale Volkspartei dagegen greift die Deutsche Demokratische Partei als Partei der Juden an und behauptet in Flugblättern: „73 Milliarden Mark sind während des Weltkreiges aus den Händen der Christen in die der Juden übergangen. Neun Zehntel des beweglichen Kapitals, drei Viertel aller industriellen Unternehmungen sind in ihren Händen. Den Vorteil vom Weltkrieg haben einzig und die Juden.“
Die nationalliberale Deutsche Volkspartei ist vielerorts mit der Deutschnationalen Volkspartei eine Listenverbindung eingangen – eine Möglichkeit die andere gerne aus dem Wahlrecht getilgt sehen möchten – und wird vielfach als deren Anhängsel betrachtet. Ihre Gegner werfen ihnen vor, von ihren großindustriellen Hintermännern immense Summen für den Wahlkampf erhalten haben – und spotten schon unverhohlen, dass dies nicht so arg viel zu nutzen scheine.
Die Kommunisten bleiben außen vor und rufen ihre Anhänger auf, die Wahl zu boykottieren. Trotzdem bleibt es fast überall ruhig. Sowohl in Hamburg wie Bremen fordern die Räte, dass die Wahl in keiner Weise gestört werden dürfe, da sonst Nachwahlen unter dem Schutz des preußischen Militärs drohten. Nur in Duisburg-Hamborn stürmen nachmittags linke Kommandos die Wahllokale, rauben Urnen und Wahllisten und verbrennen sie auf der Straße. In Berlin sichert Militär die Wahllokale. In der Leipziger Straße sollen Handgranaten von einem Hausdach geworfen worden sein, doch ein Täter wird nicht ermittelt. Ansonsten belagern Fotojournalisten die Wahllokale im Zentrum, um Prominente an der Urne vor die Linse zu bekommen. Wahlwerber versuchen bei den Wartenden letzte Flugblätter ihrer Partei anzubringen und teilweise schickt – im Besonderen die SPD – Lastwagen mit Musikkapellen vorbei, um für gute Stimmung zu sorgen. Paul Block, der Feuilletonchef des Berliner Tageblatts, meint, dass es vor allem an der weiblichen Präsenz gelegen habe, dass die Warterei vor den Wahllokalen ohne Gedränge und den „Krakehl“ abgelaufen sei, der sich sonst in Berlin bei Menschenansammlungen so leicht einstelle. Überhaupt seien die Frauen noch eifriger wählen gegangen als die Männer, hätten sich bestens informiert gezeigt und immun gegen die Wahlwerber vor den Lokalen. „Die Frauen waren auch keineswegs dazu geneigt, sich von den Männern ins Schlepptau nehmen zu lassen – nicht einmal von den eigenen. Es war mehrfach zu vernehmen, dass sie bei aller Liebe und Treue ihre politische Überzeugung sich selber vorbehielten und entrüstet die Vermutung zurückwiesen, als sollten sie nur als eheliche Verdoppelungen der männlichen Wähler angesehen werden.“
Am Bahnhof Zoo ruft die Schauspielerin Senta Söneland, nach einer Karriere auf der Bühne, nun vor allem in Filmkomödien zu sehen, noch einmal in einem flammenden Apell ihre Geschlechtsgenossinnen auf, auch ja wählen zu gehen – zu sehen, in einer Beilage des Berliner Tageblatts.
Gegen Abend macht dann in einigen Berliner Wahllokalen ein „Hauptmann“ die Runde, der behauptet den Auftrag zu haben, die Urnen abzuholen. Doch keiner der Wahlleiter fällt auf die „Köpenickiade“ rein.