Christa Pöppelmann > November 1918 > Donnerstag, der 1. Januar 1920
Donnerstag, der 1. Januar 1920
Donnerstag, der 1. Januar 1920
Die Silvesternacht ist in Berlin ohne größere Zwischenfälle verlaufen. „Es wurde nur etwas viel mit ‚Fröschen‘, ‚Kanonenschlägen‘ und anderen Scherzbomben geknallt“, konstatiert das Berliner Tageblatt. „Eine überflüssige, wenn auch erfreulicherweise matte Erinnerung an die Schießerei vor einem Jahr.“
„Wir warten auf unsere Kriegsgefangenen“, bedichtet Kurt Tucholsky als Theobald Tiger das vergangene Jahr, „wir warten auf unsere Menschlichkeit, wir warten aufs Sterben des Vergangenen – wir warten auf den Frieden – welche Zeit!“ Bilanz: Das Ding ist diesmal nichts geworden, Prozente: Null. Der Stand des Lebens: flau. Rechts: Reaktion – Links: Bolschewistenhorden. Bleibt, in der Mitte schließlich –: nur die Frau. Ihr, die guckt aus sanft verklebten Lidern in diesen Neujahrtag – grüßt sie von mir! – Wir warten weiter une einem niedern und grauen Weltenhimmel – wir sind wir!“
Die französische Presse sagt für das kommende Jahr einen Staatsstreich in Deutschland voraus. Im Februar werde es einen spartakistischen Putsch in Süddeutschland geben. Dann werde die Eiserne Division, die bereits 70.000 Mann umfasse, für die Wiedereinsetzung der Hohenzollern eintreten. Verschieden Grafen hätten den Kaiser in seinem Exil besucht und informiert. In einer anderen Zeitung heißt es, Lenin versuche im Einverständnis mit der deutschen Regierung eine neue Revolution in Europa zu entfachen.
Der belgische Politiker und Sekretär der Sozialistischen Internationale Camille Huysmans dagegen prophezeit einen Kollaps der europäischen Wirtschaft. Die Alliierten hätten geglaubt, dass der wirtschaftliche Ruin Deutschlands durch den Versailler Friedensvertrag die Rettung für Frankreich, England und Belgien bedeute. Nun zeige sich aber, dass der Ruin Deutschlands auch den Ruin dieser Staaten nach sich ziehen werde. Anstatt durch den Schadensersatz aus Deutschland die eigene Wirtschaft wiederaufrichten zu können, seien die Finanz- und Wirtschaftspolitiker gezwungen, zuzugeben, dass sie Deutschland Betriebsmittel und Rohstoffe liefern müssten, um die dortige Wirtschaft vor dem Bankrott zu retten. Denn derzeit sei in ganz Europa die Produktivkraft so herabgemindert, dass man ungeheure Mengen an Lebensmitteln und Rohstoffen aus Übersee importieren müsse, sie aber nicht bezahlen könne. Auf den Schadensersatz aus Deutschland zu warten, sei dabei keine Lösung, denn Deutschland könne in seiner gegenwärtigen Verfassung nicht zahlen. Um Deutschland wieder leistungsfähig zu machen, aber müsse man ihm erlauben, zu produzieren und zu exportieren.
Mehrere Tausend Berliner Hausbesitzer aber treffen sich zu einer Protestkundgebung gegen die geplante Festsetzung von Höchstmieten. Dadurch würden zahlreiche Existenzen zahlungskräftiger Hausbesitzer wirtschaftlich vernichtet werden, weshalb man sich mit allen Mitteln wehren werde. Insbesondere gedenke man die Zahlung der öffentlichen Abgaben einzustellen. „Dies wird nicht nur zu einer Zerrüttung der städtischen Finanzen, sondern gleichzeitig zu einem Verfall der Häuser und damit zu einer Verwahrlosung des gesamten Wohnungswesens führen.“
Ein Hoffnungsschimmer ist, dass für den 6. oder 7. Januar die Unterzeichnung des Schlussprotokolls über die Durchführung und damit die endgültige Ratifizierung des Versailler Friedens angekündigt wird.