Christa Pöppelmann > November 1918 > Dienstag, der 13. Januar 1920
Dienstag, der 13. Januar 1920
Wieder schießen in Berlin paramilitärische Truppen, die im Auftrag der Regierung stehen auf demonstrierende Arbeiter. Wieder gibt es Tote. Diesmal entzündet sich der Konflikt am geplanten Betriebsrätegesetz der Regierung. Diese hatte ursprünglich den Arbeitern eine umfassende Mitbestimmung in den Betrieben zugesichert und auch in Artikel 165 der Weimarer Verfassung verankert. Demnach sollten Vertreter von Arbeitern und Unternehmern gleichberechtigt an der Regelung der Lohn- und Arbeitsbedingungen sowie an der gesamten wirtschaftlichen Entwicklung mitarbeiten. Über den Betriebsräten sollten Bezirksarbeiterräte und ein Reichsarbeiterrat einen starken Überbau bilden. Davon ist im jetzt vorgelegten Gesetz nicht mehr viel geblieben. Den Betriebsräten wird die Aufgabe zugewiesen, als eine Art Scharnier zwischen Arbeitgeber und Arbeiterschaft zu fungieren hatten.
Die USPD und die revolutionären Arbeiter laufen Sturm gegen das Gesetz. Sie verlangen, dass die Betriebsräte revolutionäre Organe mit vollem Kontrollrecht über die Betriebsführung sein sollen. Ihre Forderungen laufen quasi auf eine Entmachtung der Unternehmer heraus. Für den 13. Januar, an dem im Reichstag die zweite Lesung des Gesetzes ansteht, haben sie zu Demonstrationen gegen das Gesetz, aber auch für eine Räteregierung aufgerufen.
Trotz Regenwetter leisten mindestens 100.000 Arbeiter dem Aufruf Folge. In nahezu allem Berliner Großbetrieben wird um 12 Uhr die Arbeit niedergelegt und in Kolonnen zum Reichstag marschiert. Dort hat der preussische Innenminister Wolfgang Heine zum Schutz des Reichstags und der Abgeordneten drei Hunderterschaften der vor allem aus Freikorpsleuten bestehende Sicherheitspolizei aufmarschieren lassen. Sie bewachen die Portale des Gebäudes und patroullieren in kleinen Gruppen im Umfeld. Heine erklärt später, er habe den Truppen äußerste Zurückhaltung auferlegt. Zeitweise werden sogar die Maschinengewehre auf Verlangen der Demonstranten zurückgezogen.
Das Gros der Protestierenden hat sich vor dem Westportal mit seiner Freitreppe auf dem Königsplatz gesammelt, dem heutigen Platz der Republik, wo Reden gehalten werden. Einige Abgeordnete, die bekannt für ihre Zustimmung zum Gesetz sind, werden beim Betreten des Gebäudes bedrängt, beschimpft und bespuckt. Auch auf den Zuschauertribünen im Reichstag befinden sich zahlreiche Gegner des Gesetzes. Als die Sitzung beginnt, unterstützen sie lautstark die Forderung der USPD, die Sicherheitstruppen zu entfernen, was Reichstagspräsident Fehrenbach jedoch verweigert.
Erich Dombrowski, der Berichterstatter des Berliner Tageblattes, schreibt, das seltsame Verhalten eines Mannes auf der Zuschauertribüne, der scheinbar den linken Abgeordneten zuwinkte, habe ihn veranlasst, in die oberen Stockwerke des Gebäudes zu gehen und von dort das Trieben auf dem Königsplatz zu beobachten. „Hier gab es nun ein seltsames Schauspiel. Während die Redner von der Rampe zu der Menge sprachen, gerieten die Massen allmählich in Bewegung und fingen an, nach vorne zu drängen. Dadurch wurden die einzeln oder zu zwei oder drei patrouillierenden Sicherheitsleute isoliert, von der Menge umzingelt und entwaffnet. Von hinten wurden ihnen die Gewehre entrissen und meist sofort kurz und klein geschlagen. Einzelne Sicherheitsleute wurden dabei auf die Erde geworfen und schwer misshandelt. … Einige Leute, die keinen Ausweg mehr vor der heranwogenden Menge wussten, warfen die Gewehre fort und flüchteten.“
Auch andere Augenzeugen berichten von den Entwaffnungen und einem systematischen Zurückdrängen der Postenreihen vor dem Portal. Dabei sollen Männer in Matrosenuniformen führend gewesen sein, obwohl gar keine Matrosen mehr in Berlin stationiert sind. Irgendwann wird mit einem der erbeuteten Gewehre auf das Gebäude geschossen. Der Schütze wird zwar sofort von anderen Demonstranten entwaffnet, doch nun kommen Sicherheitskräfte von den anderen Portalen ihren bedrängten Kollegen zur Hilfe. Doch auch sie können wenig ausrichten.
Was dann vor Portal II, das im Süden zum Tiergarten hin gelegen ist, vorfällt, ist bis heute rätselhaft. Im offiziellen Bericht heißt es, dass die Demonstranten die Sicherheitsleute vor dem Portal bedrängten und diese in höchster Not das Feuer eröffneten. Doch die meisten Opfer gibt es in einiger Entfernung südlich der Simsonstraße (heute Scheidemannstraße) am Rand des Tiergarten. Auch die USPD-Abgeordneten Luise Zietz und Otto Brass sagen später aus, die Straße zwischen Demonstranten und Reichstag sei leer gewesen.
Dagegen berichtet Innenminister Heine, der Konflikt sei eskaliert, als die Hilfstruppen von Portal II größtenteils verwundet und teils auch ihrer Waffen beraubt vom Königsplatz zum südlichen Portal zurückgekommen seien und auch dort von den Demonstranten bedrängt worden seien. Er beschuldigt Zietz und ihren Fraktionskollegen Fritz Zubeil mit den Rufen „Dies Haus gehört dem Volke und nicht der Sicherheitspolizei. Ihr wisst, was ihr zu tun habt“ das Kommando zum Angriff gegeben zu haben – was die beiden als Verleumdung zurückweisen. „Nach diesen Zurufen drängten die Wellen der Massen sich mehr und mehr gegen die Sicherheitswehr vor,“ erklärt Heine jedoch. Doch während er einerseits schildert, die Sicherheitswehr sei ganz an die Wand gedrückt worden und es sei eine Frage von Sekunden gewesen, dass die Masse in das Haus eingedrungen wäre, sagt auch er, die Demonstranten seien (nur noch) fünf Meter entfernt gewesen.
Möglicherweise hat trotz des Abstandes einer der – für eine solche Situation nicht ausgebildeten – Sicherheitsleute angesichts neuer drohender Angriffe die Nerven verloren. Relativ unstrittig unter den Historikern ist, dass die Soldaten, nachdem erst einmal das Feuer eröffnet war, noch minutenlang in die fliehende Menge hineinschossen. Am Ende sind 41 Demonstranten tot und rund 100 Verletzten. Auf Seiten der Sicherheitsleute gibt es einen Toten und 15 teils schwer Verletzte. Ein Unterwachtmeister wird in einen Keller verschleppt und dort ausgeplündert.
Ein Teil der Verwundeten wird in in den Reichstag gebracht. Dort möchte Reichspräsident Fehrenbach die Sitzung trotz allem fortführen, doch die Abgeordneten der USPD erzwingen den Abbruch.