Christa Pöppelmann > November 1918 > Dienstag, der 20. Januar 1920
Dienstag, der 20. Januar 1920
Karl Helfferich erhält vor Gericht die Gelegenheit zu einer Erklärung, die ein zweistündiger Rundangriff auf Erzberger wird. Helfferich räumt ein, dass seine Angriffe gegen Erzberger Beleidigungen darstellen würden, wären sie unbegründet. Doch aufgrund langjähriger und genauester Beobachtung sei er zu der Überzeugung gekommen, dass Erzberger ein Verhängnis für das Deutsche Reich und das deutsche Volk sei. Er beginnt dann mit Erzbergers Angriffen gegen die deutsche Kolonialpolitik im Jahr 1907. Schon da sei er der eigenen Regierung in den Rücken gefallen und habe Skandale so aufgebauscht, dass sie den Alliierten bei den Verhandlungen über den Versailler Frieden als Vorwand gedient hätten, Deutschland seine Kolonien zu rauben, da es unfähig und unwürdig sei, Kolonien zu verwalten. Erzberger habe damals zudem Material von einem später verurteilten Beamten des Kolonialministeriums erhalten und womöglich mit einem Aktendiebstahl aus den Räumen des Flottenvereins zu tun gehabt. Während des Krieges habe Erzberger dann als Organisator der Auslandspropaganda nicht nur ungeheure Summen verschleudert, sondern sei der beste Verbündete der feindlichen Propaganda gewesen, indem er durch seine „grobe Ungeschicklichkeiten und durch – Schlimmeres“ Deutschland überall lächerlich und verächtlich gemacht habe und schließlich „mehr und mehr in das Kielwasser der Wiener Regierung und, was noch schlimmer war, der Familienpolitik des Hauses Bourbon-Parma“ geraten. ( Prinz Sixtus von Bourbon-Parma, der Bruder der österreichischen Ex-Kaiserin Zita, hatte sich während des Krieges um einen österreichischen Sonderfrieden mit den Alliierten an Deutschland vorbei bemüht.) Auch Erzbergers Friedensresolution im Sommer 1917 gehe auf österreichisches Anstiften zurück. Erzberger habe dadurch nicht nur Kanzler Bethmann Hollweg gestürzt, sondern auch bei den Feinden die aufkeimende Friedensgeneigtheit zerstört und den moralischen Zusammenbruch Deutschlands vorbereitet. Als er dann 1918 den Waffenstillstand unterzeichnete, habe er sich unsinnigen Selbsttäuschungen hingegeben. In Wahrheit habe er durch seine Verhandelei Schritt für Schritt wichtige deutsche Interessen preisgegeben. „Er hat über die Bedingungen des Waffenstillstandes hinaus vor allem unsere finanzelle Knebelung auf dem Gewissen, ebenso die Auslieferung unserer Handelsflotte.“ Dieses Werk habe er gekrönt, indem er bereit gewesen sei, den Friedensvertrag bedingungslos zu unterzeichnen, „während die Nationalversammlung, mit Ausnahme der Unabhängigen, in einem letzten Aufschwung vaterländischen Geistes sich gegen diesen Raub- und Gewaltfrieden aufbäumte.“ Als Reichsfinanzminister agiere er zugunsten von Schiebern und eines fremden Staates, indem er „ohne Not und gegen den entschiedensten Einspruch der kompetentesten Kreise“ die Einlösung der noch im einst besetzten Belgien umlaufenden deutschen Noten zu ihrem Goldwert zugesagt habe. Und „wenn es nicht noch in letzter Stunde gelingt, ihn aus dem politischen Leben auszumerzen“ werde Erzberge rauch den den letzten Rest von dem verderben, „was unsnoch geblieben ist.“ Außerdem sei Erzbergers Verhalten immer von seinem und seiner Freunde finanziellen Interessen bestimmt gewesen. Erzberger sei einst völlig ohne Vermögen nach Berlin gekommen und inzwischen allein aufgrund seines politischen Einflusses, so vermögend geworden, dass er der Matthiaskirche in Trier eine Spende von 50.000 Mark habe machen können. In ihm werde der Typus des poltisch-parlamentarischen Geschäftemachers und die politische Korruption bekämpft. „Wie soll man von dem kleinen Mann aus dem Arbeiterstande, dem Beamtenstande, der schwer zu ringen hat mit der Not der Zeit, Arbeit und Anstand, Ehrgefühl und Widerstand gegen die Versuchungen des Schiebertums und der Bestechung verlangen, wenn die leitenden Männer nicht hoch erhaben über jedem Vorwurf stehen, wenn vielmehr das böse Beispiel ‚von oben‘ Ansteckung und Fäulnis verbreitet?“ Helfferich verspricht, er werde Belastungsmaterial vorbringen, das beweise, das Erzberger seine politischen Einflüsse für seine privaten finanziellen Interessen benutzt habe, sich habe bestechen lassen, sich von verurteilten Schiebern mit Schleichhandelswaren habe beliefern lassen, an Firmen beteiligt sei, die bekannt seien für „ihre riesigen Kriegs- und Revolutionsgewinne und durch die geradezu sensationelle Aussaugung deutscher Montantunternehmen“ Seine Broschüre über Erzberger sei absichtlich beleidigend formuliert worden, erklärt Helfferich schließlich, um eine Beleidigungsanklage zu erzwingen und so den ganzen Skandal vor Gericht aufdecken zu können. Zuvor habe er sich an den Reichspräsidenten gewandt. „Man hat davon keinen Gebrauch gemacht, denn ich gehöre zu den ‚kompromittierten Persönlichkeiten‘ des alten Regimes und Herr Erzberger ist der Stolz und die Perle des glorreichen neuen Regimes. … So blieb mir nur übrig, den Austrag vor Gericht zu erzwingen. Die preussischen Gerichte, die auch in den Stürmen der Revolution ihre alten, wohlbegründeten Rufe der strengsten Unparteilichkeit ohne Ansehen der Person bewahrt haben, sind die einzige Instanz in Deutschland, von der heute eine objketive, nicht von der Partein Haß und Gunst gestörte Untersuchung zu erwarten ist.“
Anschließend erhält Matthias Erzberger das Wort. Dieser weist die gegen ihn gerichteten Vorwürfe recht sachlich zurück. Gewiss habe er in siebzehn Jahren politischen Lebens Fehler gemacht. „Aber eins habe ich mir stets in meiner Tätigkeit vorschweben lassen: Ich will bis ans Ende meines Lebens dem ganzen deutschen Volke dienen!“ Nie sei er der Regierung in den Rücken gefallen. Was den Kolonialskandal angehe, habe er nur seine Pflicht als Abgeordneter getan, Fehler wie den Vernichtungskrieg anzuprangern. Um eine Propagandatätigkeit während des Krieges habe er sich nicht gerissen, sondern sei gedrängt worden, seine Kontakte im internationalen Katholizismus zu nutzen, um Sympathien für Deutschland zu nutzen, was selbstverständlich auch Kontakte zu den Verbündeten inklusive des Hauses Bourbon-Parma beinhaltete. Diese hätten aber immer nur den Zweck gehabt, den Abfall eines Verbündeten zu verhindern. Seine Friedensresolution werde „stets mit goldenen Lettern in der Geshcichte des deutschen Parlaments eingetragen sein“, bei der Unterzeichnung des Waffenstillstandes von Compiègne habe er getreu den Anweisungen von Hindenburg und Ebert gehandelt und das Eintreten für die Unterzeichnung des Friedensvertrages von Versailles – im Bewusstsein dafür angefeindet zu werden – werde er sich sein Leben lang als Verdienst anrechnen, denn dadurch habe er den Einmarsch des Feindes und einen völligen Zusammenbruch Deutschlands verhindert. Im Übrigen sei er dafür, die Korruption mit Pech und Schwefel auszurotten, es gebe jedoch kein Gesetz, dass Abgeordnete nicht in Aufsichtsräte gewählt werden dürften. Im Übrigen sei er früher nicht so bettelarm gewesen, heute nicht so märchenhaft reich wie „die tollsten Gerüchte“ behaupten und sicher gebe sein Kontrahent mehr für Miete aus. Erzberger bekräftigt aber seine Auffassung, dass Helfferich aufgrund seiner Belgienpolitik ein gerüttelt Maß an Mitschuld für den desaströsen Ausgang des Krieges habe. Denn seiner Meinung habe es im September 1917 noch die Aussicht auf einen „guten Frieden“ gegeben, wenn die damalige Regierung auf Belgien verzichtet hätte.