Christa Pöppelmann > November 1918 > Donnerstag, der 22. Januar 1920
Donnerstag, der 22. Januar 1920
Die Preise in Deutschland steigen unaufhaltsam weiter an. Eine Stichprobe in Berlin ergibt, dass in den ersten Wochen des Jahres der Preis eines großen Brotes von 1,94 Mark auf 2,76 Mark gestiegen ist. Ein Pfund Reis kostet nun 8 Mark statt 6,25, ein Pfund Zucker 12 bis 15 statt zehn Mark, ein Ei 250 Mark statt 2,25. Erschwinglicher sind Kartoffeln, deren Preis von 0,20 auf 0,25 Mark gestiegen ist. Auch Bier ist verhältnissmäßig günstig, kostet nun aber 0,50 statt 0,30 Mark die Flasche.
Die hohen Steuern, mit denen Finanzminister Erzberger die Reichsfinanzen möglichst sozial gerecht sanieren will, beunruhigen weiterhin die Vermögenden und Unternehmer massiv, auch jene, die eigentlich hinter der Regierung stehen. Der linksliberale Abgeordnete Georg Gothein befürchtet eine Abwanderung gerade der klügsten und fähigsten Köpfe aus Deutschland. Auch die Kunst werde veröden, wenn kein Mensch sie sich mehr leisten könne. Schlimme Auswirkungen befürchtet er auch auf die Steuermoral. „Es heißt vom Menschen zu viel verlangen, einen solchen Teil seines Einkommens als Steuer zu opfern, dass er sich und seine Familie von dem Rest nicht mehr angemessen ernähren kann. Dass er sich anstrengen soll, um vielleicht drei Viertel und mehr des von ihm sauer Erworbenen hinzugeben.“ Außerdem brauche es gerade jetzt dringend Kapital, um das Wirtschaftsleben wiederaufzubauen. Wenn die ganze Finanzreform aber am Ende scheitere, würde dies auch zu einer furchtbaren Enttäuschung in der Arbeiterschaft führen.
Matthias Erzberger muss unterdessen vor Gericht über seine Beziehungen zu August Thyssen Rechenschaft geben. Karl Helfferich wirft ihm vor, während des Krieges ein extremer Annexionist gewesen zu sein, der Thyssen die französischen Erzgruben in Briey-Longwy habe zuschanzen wollen, aber einen politischen 180-Grad-Schwenk hin zum Friedenspolitiker gemacht zu haben, nachdem er nicht mehr in geschäftlicher Verbindung zu Thyssen gestanden habe und keine Vorteile von eventuellen Annexionnen mehr zu erwarten gehabt habe. Helfferich erklärt, die Thyssenangelegenheit nur als Beispiel für Erzbergers Charakterlosigkeit und sein Verfolgen eigener finanzieller Interessen angeführt zu haben.
Erzberger erklärt, dass er als Abgeordneter immer wieder Vertreter der Industrie angehört habe, um deren Wünsche und Bedürfnisse kennenzulernen. Die Vertreter der einzelnen Gruppen seien deshalb zu ihm gekommen, weil er jahrelang der einzige Vertreter des Zentrums gewesen sei, der in Berlin wohnte. Finanzielle Vorteile habe er davon nie gehabt, nicht einmal Geschenke angenommen. Als ihm Thyssen dann 1915 einen Sitz im Aufsichtsrat angeboten habe, habe er angenommen, jedoch auf eine feste, gewinnunabhängige Vergütung bestanden und sein Amt als Berichterstatter für den Militäretat niedergelegt, „damit niemand auf den Gedanken einer Verbindung der Firma Thyssen mit Heereslieferungen kommen könnte. … Was ich nachdem zugunsten der Firma Thyssen getan habe, habe ich lediglich im Rahmen des allgemeinen volkswirtschaftlichen Interesses getan. … Es war zuerst August Thyssen, der nach Luxemburg ins Hauptquartier fuhr und dort offen erklärte, Deutschland müsse den Krieg verlieren, wenn es keine Erze bekomme. Alle Länder hatten ihre Stahlproduktion gesteigert, die deutsche war gesunken und die Front schrie nach Material. Das war der Grund, weshalb ich für die Liquidation der Erzgruben im Brieygebiet und Ausnützung im deutschen Interesse eintrat.“ Mitte 1917 sei er dann auf eigenes Betreiben aus dem Aufsichtsrat ausgeschieden, weil seine Ansichten, wie sie in seiner Friedensresolution ausgedrückt waren, nicht mehr mit denen des Thyssen-Konzerns übereingestimmt hätten.
Es folgt ein regelrechtes Kreuzverhör Erzbergers, an dem sich auch Karl Helfferich beteiligt. Erzberger erklärt, er habe sich nur für eine Nutzung der Gruben während des Krieges eingesetzt, niemals für eine Eigentumsübertragung an Thyssen. Helfferich dagegen erklärt, dass weder die Regierung noch die OHL je die Annexion von Longwy-Briey ernstlich erwogen hätten, Erzberger dies jedoch verlangt habe. Außerdem habe Erzberger, nachdem er bei Thyssen ausgeschieden sei, plötzlich schwere Vorwürfe erhoben, dass die Regierung die Riesengewinne der Schwerindustrie nicht mit Ausfuhrzöllen belegt habe und seine, Helfferichs unterschriftsreife Steuerpläne sabotiert.