Mittwoch, der 20. November 1918

Auf dem Tempelhofer Feld in Berlin versammeln sich um 11 Uhr unzählige Menschen. Auf einem schwarz drapierten Podium sind die Särge von acht Toten des Revolution aufgebahrt, sieben schwarze und ein weißer für die Arbeiterin Charlotte Nagel. Insgesamt umgekommen sind in den Revolutionstagen 15 Menschen: ein Matrose, ein Soldat, ein Offizier, neun Arbeiter und Handwerker, zwei Arbeiterinnen und ein dreizehnjähriger Schüler, von denen jedoch einige bereits von ihren Angehörigen beerdigt wurden. Nach vielen Reden werden die Särge auf drei Wägen umgeladen und um 12 Uhr setzt sich ein gigantischer Trauerzug in Bewegung. Mit dabei sind Deputationen mit Hunderten von rotbebänderten Kränzen, Mitglieder der Regierung, der Kommune, der Parteien, die Volksmarinedivision, die Ehrendivision des Alexanderregiments, Dragoner zu Pferd und Soldaten mit roten Fahnen, Kapellen, die immer wieder die Internationale spielen, französische und russische Kriegsgefangene, vor allem aber Arbeiter. Alle öffentlichen Gebäude sind rot geschmückt, die Flaggen auf Halbmast. Auch die Victoria auf dem Brandenburger Tor hat eine rote Fahne bekommen. Von 12:30 bis 13 Uhr und von 15 bis 15:30 Uhr läuten die Glocken der Kirchen. Gegen 16 Uhr erreicht der vom Vollzugsrat organisierte Zug den Friedhof der Märzgefallenen am Volkspark Friedrichshain, wo die Toten von 1918 neben den Opfern der Revolution von 1848 beerdigt werden. 450 Sänger des Arbeitersängerbundes und ein Bläserchor sowie Salutschüsse der Matrosen bilden den Rahmen der Beerdigung. Hermann Müller, der spätere Kanzler, meint rückblickend: „So waren, seit die Welt besteht, Proletarier noch nicht zu Grabe geleitet worden.“ Als politische Redner sind Luise Zietz vom Zentralkomitee der USPD und Emil Barth vorgesehen, der Revolutionäre Obmann im Rat der Volksbeauftragten. Doch dann drängt sich auch noch Karl Liebknecht vor und beschwört die Trauergäste, sich rücksichtslos für die Verwirklichung einer sozialistischen Politik einzusetzen.

 

Gleichzeitig wirft Rosa Luxemburg in der Roten Fahne Genossen wie Ebert und Scheidemann, aber auch Kautsky und Haase vor, das ABC des Sozialismus vergessen zu haben. „Sie haben vergessen, dass die Bourgoisie nicht eine parlamentarische Partei, sondern eine herrschende Klasse ist.“ Die Herren Junker und Kapitalisten, so warnt sie, werden nur brav sein, solange auch die Revolution brav sei und sich damit begnüge, „kleine Schönheitspflästerchen auf das kapitalistische Lohnverhältnis zu kleben.“ Ein tatsächlicher Sozialismus aber bedeute Kampf. „Der ‚Bürgerkrieg‘, den man aus der Revolution mit ängstlicher Sorge zu verbannen sucht, lässt sich nicht verbannen. Denn Bürgerkrieg ist nur ein anderer Kampf für Klassenkampf, und der Gedanke, den Sozialismus ohne Klassenkampf, durch parlamentarischen Mehrheitsbeschluss einführen zu können, ist eine lächerliche, kleinbürgerliche Illusion.“ Der „feige Umweg“ über die Nationalversammlung stärke nur die Bougoisie. Stattdessen brauche es die Einberufung einer Arbeitervertretung. „Keine Ausflüchte, keine Zweideutigkeiten, – die Würfel müssen fallen. Der parlamentarische Kretinismus war gestern eine Schwäche, ist heute eine Zweideutigkeit, wird morgen ein Verrat am Sozialismus sein.“

 

Im Bürgertum nährt das die Ängste vor einem bolschewistischen Umsturz. Der sozialdemokratische Historiker Gustav Mayer sieht die Revolution mit unheimlicher Geschwindigkeit nach links treiben. Er befürchtet, dass angesichts der Schwäche der Regierung 2000 entschlossene Spartakisten ausreichend seien, sich der Stadt zu bemächtigen.

Der Kommandant der Volksmarinedivision, Otto Tost, jedoch lässt in den Zeitungen eine Erklärung veröffentlichen, dass seine Division auf Seiten der Regierung steht, solange „die sich grundsätzlich zur sozialen Politik bekennt. … Diese Volksmarinedivision will im Augenblick alles vermeiden, was zur Störung von Ruhe und Ordnung durch die bestehenden politischen Gegensätze in den sozialistischen Parteien führen könne“. Vor der Austragung interner Auseinandersetzungen müsse erst die gemeinsame Sache des Proletariats gesichert sein. „Wir werden dann abwarten, welche Maßnahmen die Regierung ergreifen wird, um dem Proletariat zu seinem unbestreitbaren Recht zu verhelfen, zu dem Recht, auf alle Zeiten als Machtfaktor zu wirken, damit ein solches Unglück, wie das eben durchlebte und noch in seiner ganzen Bitterkeit auf uns lastende, sich niemals wiederholen kann.“

Für die Linke gehört dazu vor allem die Entmachtung des preußischen Militärs. Auf einer Kabinettssitzung fordert Emil Barth Ebert auf, Hindenburg als OHL-Chef zu entlassen. Doch der lehnt ab. Da Hindenburg auf Ehrenwort versichert habe, hinter der neuen Regierung zu stehen, gäbe es keinen triftigen Grund, ihn abzulösen. Auch bei anderen SPD-Führern ist das Vertrauen in die Ehrenhaftigkeit der Militärführung groß. Scheidemann meint bei anderer Gelegenheit, es gäbe sicher ein gutes Dutzend Offiziere, die zu verrückten Streichen fähig seien, doch die, die die Revolution gefährdeten, ständen auf der anderen Seite, gegen sie müsse man sich wehren. Dass die Angst vor Spartakus & Co. so groß ist, liegt allerdings auch an der aggressiven Rhethorik von deren Führern, die nahelegen, man strebe russische Verhältnisse an.

Im Berliner Tageblatt räsoniert Richard Witting, Bruder des bekannten Journalisten Maximilian Harden und vor dem Krieg treu kaiserlicher, nationalliberaler Politiker, über die deutsche Kriegsschuld: „Man muss und kann von einer universalen Schuld des gesamten Kulturwelt, von einer nationalen und besonderen Schuld des deutschen Volkes und von einer besonders schweren Schuld einzelner mit Fug und Recht reden. … Ein unsinniger Neid, Wettkampf, Missgunst und Hass hatten unter dem Schein gewisser höflicher Formeln bei den Kulturvölkern der Erde Platz gegriffen, ein wahnsinniger, aberwitziger Wettstreit und ein Wettjagen nach den Gütern der Erde. Und so standen wir, wie Friedrich Wilhelm Förster scharfsinnig hervorhebt, im Begriff, wirklich den Weg von Ninive und Babylon zu gehen, weil wir im Inneren unserer Seele nicht gütig und gerecht, sondern geschäftswütig und gehässig geworden waren. … Dazu kam dann die spezifische Schuld des deutschen Volkes … während wir noch immer in schnurrbärtiger Selbstsicherheit mit dem klirrenden Schwerte fuchtelten, während die militaristische Denkweise von unseren gebildeten Zivilisten, von Oberlehrern und Professoren, von Richtern und Pastoren und allmählich auch durch die Vermittlung des Reserveoffizierstandes durch unsere Erwerbskreise immer stärker aufgenommen wurden, … hatte sich die europäische Umwelt langsam, aber doch mit sichtlicher Konsequenz immer mehr von dem Standpunkte der eisernen Bereitschaft bereits entfernt. Die westlichen Völker … wollten nichts mehr recht wissen von der absoluten Herrschaft der ultima ratio regum … und hatten allmählich die Vorzüge einer klugen Vertragspolitik kennen und schätzen gelernt. In Deutschland hatte unter dem Druck der napoleonischen Verfolgungen im Laufe der Jahrzehnte der Geist Potsdams über den Geist Weimars triumphiert, was begreiflich und verzeihlich, wenn auch vielleicht gerade vom realpolitischen Standpunkt aus verhängnisvoll war. … Gerade das Volk in der Mitte muss den Gedanken des Rechts pflegen, nicht den der Macht, und deshalb sind Treitschke und alle jenen unseligen Propheten der nationalen Isolierung unser katastrophales Unglück geworden. Dazu kam dann noch die unerhörte Unfähigkeit der Bismarckschen Epigonen; der Riese hatte mit seiner genial durchgeführten Tierbändigerpolitik auch zugleich ein meisterhaftes Schachspiel verbunden; jeder Zug war mit grübelndem Scharfsinn und weiser Vorsicht erdacht. Seine Nachfolger hatten ihm, ohne jeden tieferen Sinn für seine Staatskunst, nicht einmal das Räuspern und Spucken abgeguckt, aber dazu noch unter dem Flackertemperament eines durch und durch unpolitisch veranlagten Herrschers täppisch und tapsig eine Politik törichter allseitiger Brüskierung getrieben, die die gesamte außerdeutsche Staatenwelt beunruhigte und quälte, die ewig zwischen der Gebärde der gepanzerten Faust und des scharf geschliffenen Schwertes einerseits und einer oft beinahe demütigen Unterwürfigkeit andererseits hin und her schwankte. … Kann man sich darüber wundern, dass das Ausland allmählich in einen immer stärkeren Argwohn gegen dieses Deutschland hineingetrieben wurde, das nicht nur alle zwei, drei Jahre sein Heer und seine Rüstungen enorm verstärkte, seine Flotte ungeheuer vermehrte, sondern auch die Heilslehre von der deutschen Macht und Herrlichkeit tagtäglich mit tausend Zungen verkündete? Seien wir doch ehrlich: … Wir haben uns durch unser ganzes, oft aberwitziges Gehaben erst selbst isoliert, um dann von einem gegen uns sich bildenden Garantiekonsortium umkreist zu werden. … Und dazu noch eine leichtfertige, spielerische Tagespolitik, bei der allmählich alle Trümpfe in die Hände kluger und vorsichtiger Gegner gespielt wurden.“

Witting hofft, dass die in Gründung begriffene demokratische Partei für eine geistige und sittliche Erneuerung sorgen kann, doch die Fusion von Fortschrittlicher Volkspartei und Nationalliberaler Partei scheitert. Die linksliberalen Fortschrittler fordern ein Bekenntnis zur Republik, was die Nationalliberalen, von denen nicht wenige von einer Wiederherstellung der Monarchie träumen, noch zähneknirschend akzeptieren. Doch dass die Fortschrittler dem nationalliberalem Parteichef Gustav Stresemann keine führende Rolle zugestehen wollen, weil er während des Krieges weitreichende Annexionen propagiert hatte, nehmen die meisten nicht hin. Letztendlich schließen sich nur die Fortschrittliche Volkspartei und der kleine linke Flügel der Nationalliberalen zur Deutschen Demokratischen Partei zusammen. Das Gros der Nationalliberalen gründet sich als Deutsche Volkspartei neu.

 

Ein weiterer Rückblick in die Kaiserzeit findet sich unter der Überschrift „Wie Wilhelm II. ‚durchhielt‚“ in den Zeitungen. Wilhelm Carlé, ein Mitglied des Berliner Arbeiter- und Soldatenrat, hat sich im Schloss die Privatvorräte des Kaisers (ohne die des Hofstaats) zeigen lassen: „In großen weißgetäfelten Kammern stand hier alles, aber auch wirklich alles, was man sich an Lebensmittelvorräten überhaupt denken kann. Nein, ich muss mich verbessern, man kann es sich nicht ausdenken, dass nach vierjährigem Krieg noch solche ungeheuren Mengen von Lebensmitteln aufgespeichert sind. Da finden wir Fleisch und Geflügel auf Eis, Saucentunken in großen Kisten, blütenweißes Mehl in Säcken bis an die hohe Decke aufgestapelt, tausende von Eiern, Riesenbassins mit Schmalz, Kaffee, Tee, Schokolade, Gelees und Konserven jeder Art aufgeschichtet in unendlich erscheinenden Reihen. Hunderte von blauen Zuckerhüten, Hülsenfrüchte, Dörrobst, Zwieback usw. … Wenn diese Lebensmittelvorräte augenblicklich nicht besser zu gebrauchen wären, so möchte man vorschlagen, sie unberührt dem deutschen Volke im Nationalmuseum als ein ewiges Zeichen zu erhalten, damit Kinder und Kindeskinder noch sehen mögen, wie in Deutschland, während Millionen hungerten, ‚Gottbegnadete‘ durchhielten.“ Der Vorwärts veröffentlicht auch die Speisekarten aus dem Großen Hauptquartier in Spa, wo man angeblich in „spartanischer Einfachheit“ speiste, sich real aber mittags wie abends an Rehrücken, Rebhühnern und Seezunge, begleitet von edlem Gemüse, Pasteten und Desserts labte. Auch in anderen deutschen Ländern sind die Vorräte der Fürsten öffentliches Thema und werden zu großen Teilen beschlagnahmt. Teilweise gehen die ehemals Regierenden aber auch in die Offensive. So übergibt die preußische Ex-Kronprinzessin Cecilie dem Potsdamer Arbeiter- und Soldatenrat mehrere Zentner Weizen und einige Hundert Glas Honig, damit daraus zu Weihnachten Lebkuchen für notleidende Kinder gebacken werden.

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