Christa Pöppelmann > November 1918 > Montag, der 24. November 1919
Montag, der 24. November 1919
Über den Kreis Bitterfeld wird der Ausnahmezustand verhängt. Nachdem es dort schon länger gärte und immer wieder zu Streiks kamen, gingen die Arbeiter des Anilinwerkes in Wolfen und die Belegschaft des Werkes Elektro 1 in den Ausstand, weil ihnen nicht gestattet wurde, am Buß- und Bettag, einem gesetzlichen Feiertag, weiterzuarbeiten. In Berlin macht man sich Sorgen, denn das zum Bitterfelder Revier gehörende, erst 1915 erbaute Kraftwerk Zschornewitz – das größte Kraftwerk der Welt – liefert einen großen Teil des Berliner Stroms.
Doch nicht die Arbeiter sind die großen Kriegsverlierer, sondern der Mittelstand, dessen Fähigkeiten aktuell weniger gebraucht werden. Kurt Tucholsky weist unter dem Pseudonym Paul Panter im Berliner Tageblatt auf die schleichende Verelendung hin. „Eine ganze Schicht lebt heute noch das alte Leben weiter fort, aber es ist ein Scheinleben; … Eine ganze Schicht fragt sich jeden Morgen besorgt und beschwert, wie lange es noch so wird weitergehen können. Denn die alten Sachen, die noch vorhanden sind, das Material, das heftig in Anspruch genommen wird; es wird eines Tages verbraucht sein. … Dann wird eine Schicht, die heute nicht das Schlechteste am Mittelstand darstellt, untergegangen sein, leise, klangslos, sitll, ohne dass es einer merken wird. Untergehen – die Menschen gehen nicht unter. Sie verelenden. Und das geschieht ohne viel Lärm und Aufsehen. … Die Lauten treten an ihre Stelle, die Robusten, jene, die zu jeder Konzession bereit sind, und die Geld verdienen, haben, scheffeln. Und so geht unser Bestes langsam vor die Hunde. … All die kleinen Lehrerinnen, die Bematne, die kaufmännischen Angestellten und ihre Angehörigen – diese ganze Schicht, die bis dahin den empfänglichen Boden für die Gaben der Künstler gebildet hatte, die so dankbar waren für alles, was ihnen gegeben wurde – sie sind in der Nähe des Untergangs. … Noch geht im großen und ganzen das Spiel mit den alten Kulissen weiter. Noch wird verlangt, dass jeder reine und gut gepflegte Leinwäsche trägt – und er kann das ja auch, weil er sie noch besitzt. Aber wenn sie abgenutzt ist, was dann – ? … Noch glauben sie, es könne damit nicht abgetan sein. Es könne nicht so aufhören. Dafür könnte die Generation ihrer Väter und Vorväzter nicht gerungen haben. („Mein Junge soll mal was Besseres werden!“) – noch glauben sie … ich wette, das sdieser Glaube stärker ist als die wirtschaftlichen Gesetze. Lasst nicht ab! Bleibt diesem Glauben treu! Er ist euer Bestes. Wir alle sehen, wie es bergab geht, unaufhaltsam bergab, und wie wenig Hoffnung ist, das swir jemals die Zeiten des billigen Inselbuches (dass mir geradezu als Symptom dieser Schicht erscheint) wieder erleben werden. Glaubt denoch! … Glaubt, glaubt. Haltet fest, ihr kleinen Kaufleute und ihr Lehrer, haltet fest, Angestellte und Arbeiter und Handwerker! … Nicht lange mehr, und ein härterer Kampf wird beginnen, als der der war, der um jenes Fort Douaumont tobte.“
Den Charlottenburger Sanitätsrat Max Edel dagegen besorgt der zunehmende Genuss von Betäubungsmitteln. „Was Wunder, dass bei seelischen Anstrengungen unserer Zeit diese Giftblume des Morphinismus und Kokaninismus gedeiht und dass der Trosttropfen Vergessenheit begierig geschlürft wird! Gewiss sind Morphium und Kokain anerkannte und vorzügliche Mittel zur Schmerzbetäubung, die in der Chirurgie, beim Zahnarzt, bei unheilbaren inneren und Nervenkrankheiten sehr wohl am Platz sein können, bei gewissen psychischen Störungen sogar in Form des Opiums außerordentlich beruhigend wirken. Aber der Krieg hat eine ganz andere Anwendung mit sich gebracht, die sich zu einer Gefahr auszuwachsen droht.“ Nicht nur, dass Menschen in verantwortlichen Stellungen, auch Ärzte, Apotheker und Krankenschwestern, sowie Menschen, die gezwungen seien, regelmäßig nachts zu arbeiten wie Schauspieler und Kabarettisten, sich damit künstlich aufrechtzuerhalten suchten, der Missbrauch sei „förmlich Mode geworden; es ist ein offenes Geheimnis, dass sie in Nachtlokalen heute feilgeboten werden, und das in Dielen, Bars und ähnlichen Stätten nächtlichen Vergnügens namentlich Kokain zum Schnupfen serviert wird.“ Es sei noch zu wenig bekannt, warnt Edel, dass mit der Zeit immer größere Dosen notwendig seien, um die gewünschte Wirkung zu erreichen, und diese nicht nur die Gesundheit völlig untergraben, sondern auch den Charakter verderben. „Die Erkrankten vernachlässigen sich, bekommen, sowiet sie das Mittel einspritzen, Hautverdickungen, Geschwüre am Körper, werden schwach und hinfällig und altern vorzeitig. Die Persönlichkeit ändert sich. Das ganze Denken und Trachten wird auf die Erlangung des Mittels gerichtet und dabei wird skrupellos vorgegangen: gelogen, gestohlen, Rezepte gefälscht und anderes.“ Edel fordert, energische Maßnahmen gegen diese Gefahr.