Samstag, der 27. März 1920

Die Lage im Ruhrgebiet spitzt sich zu. In Dortmund ist ein neuer Generalstreik in Kraft getreten. Ab Freitag Abend 9 Uhr durfte niemand mehr ohne Ausweis auf die Straße. Alle Geschäfte und Restaurants sind geschlossen, ebenso das Telegraphenamt. Auch Zeitungen erscheinen nicht. Im ganzen Ruhrgebiet stockt der Eisenbahnverkehr. Züge werden von den Arbeitermilizen beschlagnahmt, ebenso Lebensmittel und Bankdepots. In Recklinghausen, Horst-Emscher und Duisburg-Nord streiken die Fernsprechämter. Der Essener Zentralrat fordert von der Regierung Verhandlungen. Währenddessen sollen keine Kampfhandlungen stattfinden, die Front aber gehalten werden. Sollte es nicht zu einer Einigung kommen oder sollten Regierungstruppen einmarschieren, würde ein Generalstreik im ganzen Industriegebiet beginnen.

 

Aus Kiel meldet sich der Deckoffiziersverbund und stellt klar, dass nicht „die Marine“ in Kiel und Wilhelmshaven den Putsch unterstützt habe, sondern die Seeoffiziere der Admiralität „in ihrer Gesamtheit“. Die Deckoffiziere dagegen hätten treu zur verfassungsmäßigen Regierung gestanden, ebenso die Unteroffiziere, der größte Teil der Mannschaften, die Mehrzahl der politischen Parteien und die überwiegende Mehrheit der Beövlkerung in beiden Garnisonen.

 

Auch die bürgerlichen Zeitungen in Berlin wie das Berliner Tageblatt sind noch mit der Aufarbeitung des Kapp-Putsches beschäftigt. Wirtschaftsredakteur Felix Pinner verreisst das „Wirtschaftsprogramm“ der Kapp-Regierung. „Einen schlimmeren Dilettantismus … kann man sich unmöglich vorstellen. Ohne Überlegung und Gewissenhaftigkeit war eine Reihe von wirtschaftlichen Plänen und Leitsätzen zu einem Strauss von wahrhaft gigantischer Torheit und Disharmonie zusammengewunden, aber fast jeder einzelne Programmpunkt gehörte zu den Schlagworten, die bei irgendeinem interessenpolitisch orientierten oder urteilslosen Teile der Bevölkerung populär sind. Wer vieles bringt, kann viele einfangen, dachten die Kapp-Leute und kamen sich offenbar sehr pfiffig vor. Den Landwirten wurde die Aufhebung der Zwangswirtschaft versprochen, gleichzeitig sollte aber auch gegen die Schieber und Revolutionsgewinnler vorgegangen werden, die doch zweifelslos bei dem nach der Aufhebung der Zwangswirtschaft zu erwartenden riesigen Preissprüngen noch mehr Gelegenheit gehabt hätten, ihr Schäfchen ins Trocken zu bringen. Da den Wirtschaftspolitikern der Kapp-Regierung doch unmöglich verborgen bleiben konnte, dass die Festbesoldeten durch die Einführung der freien Wirtschaft schwer konsterniert sein würden, versprachen sie den Beamten Gehaltserhöhungen und billige Lebensmittel unter Leistung von Reichszuschüssen. Dass dadurch wieder das Defizit der Finanzwirtschaft des Reiches in Ungeheuerliche wachsen würde, kümmerte Herrn Kapp nicht im mindesten. Er versprach vielmehr mit schönem Optimismus, die Kriegsanleihen prompt zu verzinsen und „ihre Rückzahlung baldigst in die Wege zu leiten“. Er schien demnach der Ansicht zu sein, dass die alte Regierung nur deswegen an die Anleihetilgung noch nicht herangehen konnte, weil sie zu wenig Schulden gemacht, zu wenig Papiergeld neu gedruckt. Herr Kapp löste alle diese Probleme nach dem Grundsatz „Geschwindigkeit ist keine Hexerei“, und er suchte die Finanzen des Reiches, denen er auf der einen Seite ungeheure neue Belastungen zumuten wollte, dadurch zu „kräftigen“, dass er die ganze Erzbergersche Finanzreform für null und nichtig erklärte und den Einzelstaaten, die ihnen durch die Erzbergsche Reichssteuereinheit genommene eigene Finanzverwaltung und Steuerhoheit zurückzugeben versprach. Hier sollte also vielleicht die einzige Großtat, die die alte Regierung vollbracht hatte, mit verbrecherischer Leichtfertigkeit wieder zunichte gemacht werden und zwar offenbar lediglich deshalb, weil Herr Kapp sich dem kindlichen Gedanken hingab, dass er dadurch die Regierungen der Bundesstaaten oder doch vielleicht gewisse partikularistische Kreise in ihnen für sich gewinnen könnte. War es demnach auch wirtschaftlicher Wahnsinn, und zwar Wahnsinn ohne jede Methode, den die Putschregierung an die Stelle der zwar vielleicht energie- und gedankenarmen, aber zweifellos gutgläubigen und gutgemeinten Wirtschaftspolitik der alten Regierung setzen wollte, so ist doch leider festzustellen, dass es – auch über die Kostgänger des alten Militarismus hinaus – nicht geringe Kreise des bürgerlichen Publikums waren, die sich von den Zauber- und Illuminationskünsten des Herrn Kapp blenden oder doch schwankend machen ließen.Wer in den ersten Tagen nach dem Putsch die unsagbar tiefstehenden Kannengießereien mitanhörte, die in den Diskutierklubs an den Straßenecken geleistet wurden, der konnte schier an dem gesunden Sinn, der Urteilskraft und dem Charakter breiter Kreise des deutschen Volkes verzweifeln. „So konnte es doch nicht weitergehen“, das war der ewige Refrain, der in vielen dieser Reden mit monomatischer Hartnäckigkeit immer wiederkehrte. Die Überlegung, wie es weitergehen würde, wenn die Kapp-Regierung ihr politisches und wirtschaftliches Programm zur Ausführung brächte, wurde vielfach gar nicht angestellt, oder mit dem Einwurf gedankenträger Bequemlichkeit abgewehrt, „dass man doch der neuen Regierung zunächst einmal Gelegenheit geben solle, zu zeigen, was sie leisten könne. … Diejenigen, die zwischen ihrer politischen Parteizugehörigkeit und ihren wirtschaftlichen Interessen nicht schnell genug einen Ausgleich herstellen konnten, trugen den in ihrer Brust wohnenden zwei Seelen Rechnung, dass sie sagen, das Kapp-Unternehmen sei zwar ein fluchwürdiges Verbrechen am deutschen Volk und an der deutschen Wirtschaft, aber den Generalstreik müsse man gleichfalls ablehnen, denn auch er beschwöre wirtschaftliche und politische Gefahren schlimmster Art herauf. Diese pflaumenweiche Lösung einer Frage, bei der es wirklich kein Biegen, sondern nur ein Brechen gab, zeigt so recht die Halbheit, Kurzsichtigkeit und Charakterlosigkeit gewisser Teile des deutschen Bürgertums, das sich dann höchstlich wundert, wenn es keine starke und schöpferische Regierung hervorbringen kann. … Die Regierung Bauer, die nach vergeblichen und kleinlichen Flickversuchen jetzt endgültig zurückgetreten ist, war gewiss nicht das Ideal einer Regierung, wie wir sie uns in diesen schweren Zeiten wünschen würden. … Man darf aber nicht vergessen, dass die Bedingungen, die diese Regierung vorgefunden hat, wohl die schwierigsten gewesen sind, die je einer Regierung gestellt waren. … Die lähmende Ungewissheit über den Friedensvertrag, die unmöglichen Bedingungen dieses Vertrages und das Warten auf seine Ratifizierung haben Deutschland viele Monate lang in einem Schwebezustand gehalten, der großzügiger Erneuerung, herzhafter Entschlusskraft keine feste Grundlage bot, gerade wenn die verantwortlichen Männer es mit ihrer Verantwortung ernst nahmen. Wie sollten sie eine gesunde Finanzpolitik treiben, wenn gegen jede neue Steuer ohne den Vorschlag eines besseren Ersatzes immer wieder Sturm gelaufen wurde, wie eine gesunde Wirtschaftspolitik, wenn die Herrschaft über die Reichsgrenzen verloren gegangen und die Verstopfung der Grenzlücken dem feindlichen Eigensinn nicht abzuringen war? Es ist in Deutschland seit Ausbruch der Revolution unendlich viel Kritik geübt worden. Aber nicht nur die Kritik der dummen Leute, die die Kompliziertheit der Zusammenhänge und die schwierige Bedingtheit unserer Lage gar nicht durchschauen, und darum in ihrer Ahnungslosigkeit Unerfüllbares verlangen, sondern auch die Kritik vieler klugen Leute, die ihre theoretisch fein ausgeklügelten Systeme auf Flugsand bauten, hat sich häufig über die Grenzen hinweggesetzt, die uns nun mal zur Zeit gezogen sind und noch längere Zeit gezogen sein werden. … Gewiss haben viele Leute den Wunsch, dass es sich schon morgen wieder so schön in Deutschland leben lassen möge, wie vor dem Kriege. Die nüchterne, traurige, aber manchem unbequeme Wahrheit hingegen ist die, dass eine schnelle Gesundung unserer Wirtschaft eine rasche Abstellung aller Mängel und Nöte undenkbar und nur ein langsames, sehr langsames Herausarbeiten Deutschlands aus dem Sumpf möglich ist, in den es Kurzsichtigkeit und Übermut gerade derjenigen gestürzt haben, die heute am schärfsten kritisieren. Jede Oppositionspartei oder jede neue Regierung, die schnelle Gesundung und Rettung verspricht, treibt gewissenlose Demagogie, um die Unzufriedenheit zu schüren und die Unzufriedenen dann als Anhänger zu gewinnen. Wer zu zaubern verspricht, ist ein Charlatan, und Charlatane können wir jetzt am wenigsten vertragen.“

Der Literaturhistoriker Otto Heuer persifliert das Mitfiebern der alten Kräfte während des Kapp-Putsches.

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