Samstag, der 5. Oktober 1918

Die Zeitungen stellen am Morgen ein gemeinsames Programm der Parteien vor, die die neue Regierung tragen werden: Um die Kriegsgegner für Friedensgespräche zu gewinnen, will man eine „einwandfreie Erklärung“ abgeben, dass Belgien wieder hergestellt und entschädigt werden wird. Außerdem sollen die Friedensverträge von Brest-Litowsk kein Hindernis für zukünftige Friedensverträge sein. Man sei bereit, einem geplanten Völkerbund beizutreten und wolle aus Elsass-Lothringen einen Bundesstaat mit voller Autonomie machen. Nach Innen wird der Belagerungszustand gelockert, die Pressezensur zurückgefahren und alle militärischen Einrichtungen beseitigt, die der politischen Beeinflussung dienen. Außerdem sollen schleunigst das preußische Dreiklassen-Wahlrecht und ähnlich ungerechte Systeme in anderen Bundesländern beseitigt werden. (In den beiden mecklenburgischen Herzogtümern etwa gibt es überhaupt noch kein gewähltes Parlament).

 

Die mit größter Spannung erwartete Reichstagssitzung beginnt um 17 Uhr. Die großen Zeitungsverlage versprechen, die Rede des neuen Kanzlers noch am Abend in Extrablättern zu verbreiten. Als die Mitglieder der neuen Regierung eintreffen, haben sich rund um den Reichstag schon schaulustige Massen gesammelt. Auch die Besuchertribüne und die Diplomatenlogen sind überfüllt. Nur in den Reihen der konservativen Abgeordneten zeigen sich Lücken. „Selbst der Chef der Fraktion, Herr v. Heydebrand und der Lasa, der ungekrönte König von Preußen z. D., ist der Sitzung ferngeblieben“, spottet der Korrespondent des Berliner Tageblatts. „Graf Westarp sein Vertreter, hat die Arme verschränkt und blickt düster vor sich hin.“ Max von Baden liest seine Rede dann „mit klarer, lauter Stimme langsam und deutlich“ vom Blatt ab. Der Tageblatt-Korrespondent findet das verständlich, schließlich handele es sich um eine Kundgebung, „in der jedes Wort auf die Goldwaage gelegt ist.“ Der neue Kanzler bekennt sich zunächst zu den bereits vorgestellten Punkten des Regierungsprogramms, bevor er eröffnet, dass er ein Friedensgesuch an Präsident Wilson gestellt hat. Allerdings gesteht er nicht, dass er in höchster militärischer Not von der OHL dazu genötigt wurde, sondern erklärt, dank des unvergleichlichen Heldentums der Soldaten sei die Front ungebrochen. Er habe „gestützt auf das Einverständnis aller dazu berufenen Stellen“ das Gesuch gestellt, damit „das opfervolle blutige Ringen nicht einen einzigen Tag über den Zeitpunkt hinaus“ dauert, „wo uns ein Abschluss des Krieges möglich erscheint.“ Das Gesuch sei an Wilsons gerichtet, weil sich dessen Friedensprogramm „mit den allgemeinen Vorstellungen in Einklang befinden, in denen sich auch die neue deutsche Regierung und mit ihr die weit überwiegende Mehrheit unseres Volkes bewegt.“ – „Was ich will“, verkündet Max von Baden, „ist ein ehrlicher, dauernder Friede für die gesamte Menschheit.“ Der Berichterstatter des Tageblatts schreibt, nachdem anfangs kein Zwischenruf die Rede gestört habe, seien erst zaghaft dann immer lauter Bravorufe zu hören gewesen. Bei der Erwähnung der Friedensnote sei dann starker Beifall aufgebrandet. „Nur in irgendeiner Ecke regte sich Widerspruch: „‚Nie … nein!'“

 

Die neue Regierung würde es gerne bei dem Beifall belassen. Reichstagspräsident Fehrenbach schlägt vor, sich anschließend sofort zu vertagen, damit die Fraktionen sich intern über die Rede beraten können, und die nächste Sitzung einzuberufen, „sobald es die Verhältnisse erfordern.“ Dagegen protestieren SPD und Polen, die angesichts eines Schrittes von solch „welthistorischer“ Bedeutung“ eine sofortige Diskussion für nötig halten. Sie werden jedoch überstimmt.

 

Draußen ist es dunkel geworden, als die versprochenen Extrablätter kommen. „Man konnte gestern Abend in den Straßen Berlins, als die Menge beim Laternenschein diese Rede las, die hoffnungsfrohen Rufe hören: ‚Das ist der Frieden! Der Frieden ist da!'“, berichtet das Berliner Tageblatt am nächsten Morgen. Auch dessen Chefredakteur Theodor Wolff schwärmt: „Niemals während des Krieges haben wir in Deutschland aus dem Munde eines auf hohem Posten stehenden Mannes eine ähnliche Rede gehört. – Wilson müsste, wenn ein redliches Wort heute die Raserei bannen kann, von der klaren Menschenliebe gewonnen werden, die den Prinzen Max erfüllt. Er müsste sich sagen, dass ein Vernichtungsfriede nur den Chauvinismus in den Ententeländern auf den Triumphstuhl heben würde, und dass darum eine Fortsetzung des Krieges keineswegs seinen Idealen dient.“ Wolff nimmt den Kanzler auch gleich gegen innenpolitische Gegner in Schutz: „Diejenigen, die in Deutschland sehr viel auf dem Gewissen haben und die Last nur leider noch nicht gut zu spüren scheinen, werden vielleicht wieder sagen, der Schritt des Prinzen Max von Baden gefalle ihnen nicht. Sie zeigen dieser Regierung eine offene Feindschaft und sind innerlich sehr froh darüber, das sie ihnen, in der schweren Stunde, die Verantwortung abgenommen hat. Sie können versichert sein, dass ihre Verantwortung dadurch nicht in Vergessenheit geraten wird. Und wenn sie sich im Stillen bereit machen, ein Misslingen des Friedensversuches gegen diese Regierung, gegen diesen Reichskanzler auszubeuten, so dürfte dieses verächtliche Spiel nicht sehr erfolgreich sein. Ganz Deutschland oder doch jenes große, ehrliche und gute Deutschland, das unvergänglich ist, empfindet, dass der Prinz von Max von Baden nach seiner Pflicht ‚als Mensch und als Diener seines Volkes‘ getan hat, was recht und notwendig ist.“

 

Da die Parteien des interfraktionellen Ausschusses immer eine Friedensinitiative auf Basis von Wilsons 14 Punkten von der Regierung gefordert haben, als sie in der Opposition waren, erscheint der Vorstoß nun, da sie an der Macht sind, nur die konsequente Umsetzung ihres Programmes zu sein, was bei der Mehrheit der Deutschen extrem gut ankommt. Selbst die konservative Kreuzzeitung meint, da der Schritt nun getan sei, gebiete es die vaterländische Pflicht, alles zu tun, damit er möglichst erfolgreich sei. Die Nationalisten jedoch schäumen ob der vermeintlichen Schande. „Dem Manne, der uns auf die rechte Wange geschlagen hat, halten wir die linke zu beliebigen Benutzung hin“, geifert etwa die Post und die Leipziger Neuesten Nachrichten behaupten, der neue Kanzler habe sich „rückhaltlos auf den Standpunkt des geistigen Führers der Feinde gestellt.“ Und die Freikonservative Partei strickt in einem Aufruf an der Dolchstoßlegende: „Nicht die äußeren Feinde, so viele ihrer sind, werden uns niederringen. … Aber im Inneren wühlt und bohrt ein Wurm, er nagt am Marke unseres Volkes und verdirbt ihm Saft und Kraft. Das Heer der Mies- und Flaumacher, der Unglücksraben und der quakenden Unken aus der Tiefe – sie, die da zischeln und raunen, jammern, Unheil prophezeien, Zweifel leise in die Ohren träufeln und unglaubwürdige Gerüchte hintenrum verbreiten – sie alle sind jetzt auf dem Plan, sie vergiften Seele, Herz und Hirn des Volkes.  Diesen Jammergestalten, ihnen, die selbst wenig oder nichts leisten, anderen aber Mannesmut und Hoffnung ausblasen, ihnen gilt es das Handwerk zu legen … Wenn solch ein Jämmerling mit verstörten Mienen an Euch herantritt, um sein fades Lied vom Verlieren, Verderben, Verzweifeln, Verhungern zum hundertsten Mal herunterzuleiern, kehrt ihm verachtungsvoll den Rücken. Es steht gut mit uns. Allen und allen zum Trotz. Weit auf feindlichem Gebiet voraus, die teure heimatliche Flur gesichert, Munition und Proviant in ausreichender Menge, geordnet und wohlbegründet unsere Finanzen, die herrliche Wehr zu Lande und zu Wasser ungebrochen unter lorbeergekrönten Führern, wie ihnen nie zuvor ein Volk mit tieferem Vertrauen folgte, … Wollt ihr die Köpfe hängen lassen und Trübsal blassen, weil wir nach mehr als vier harten Kriegsjahren ein Stück eroberten Gebiets geräumt haben und unsere Feinde sich in ihrem eingebildeten Siegestaumel wie die Unsinnigen gebärden?“

Sachlicher, aber nicht weniger ablehnend warnt die Deutsche Vaterlandspartei, man dürfe keinen Waffenstillstand unterzeichnen, bevor gesichert sei, dass die Verhandlungen auf einer Grundlage stattfinden, die Ehre, Bestand und Zukunft des deutschen Volkes wahren. Nur wenn die Feinde die äußerste Widerstandskraft des deutschen Volkes erkennen, würde es gelingen, statt einer schmachvollen, die Zukunft zertrümmernden Unterwerfung einen ehrenvollen Frieden zu erreichen.

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