Sonntag, der 17. November 1918

Von der Front kehren Soldaten zurück, soviel die Eisenbahnen bewältigen können. Durch Frankfurt am Main werden täglich etwa 100.000 Mann durchgeschleust, bislang vor allem aus der sogenannten Etappe, nicht von der Front. Die Züge – meist ungeheizt – sind gestopft voll bis auf den letzten Stehplatz, Mannschaften und Offiziere bunt durcheinander. Teilweise lagern auch noch Männer auf den Dächern. Vor allem in den Tunnels zwischen Lüttich und Aachen werden immer wieder Leute zerquetscht. Andere schlafen ein und fallen von den Dächern. Gepäck ist außen an die Waggons angebunden. An den Durchgangsbahnhöfen stehen freiwillige Hilfskräfte bereit und verteilen Verpflegung und auch Bekleidung. Viele Soldaten müsssen mehrere Tage in den Zügen durchstehen. In Berlin dürfen diejenigen, die nicht in der Hauptstadt stationiert sind, die Bahnhöfe nicht verlassen, weshalb diese einem Heerlager zu gleichen beginnen. Die Ufa beantragt beim Arbeiter- und Soldatenrat, vormittags von 10 bis 16 Uhr Vorführungen zum Selbstkostenpreis nur für Soldaten anbieten zu dürfen. Bedenken des Rates wegen der Heizkosten, kontert sie mit der Versicherung, es gehe wirklich nur darum, den durchreisenden, wartenden Soldaten in den 30(!) großen Kinos an den Bahnhöfen ein paar Stunden Unterhaltung in geheizten Räumen zu bieten. Nach Rücksprache mit der Kohlenstelle wird bis zum 1. Dezember eine Ausnahmegenehmigung erteilt. Für „versprengte“ Soldaten, Krankenschwestern und Kriegsgefangenen, deren weiterer Weg noch nicht geregelt ist, ist beim Polizeipräsidium eine Abteilung für Beratung gegründet worden, die vermeiden soll, dass jemand ohne Essen oder Obdach herumirren muss.

Die Heimkehr der Soldaten stellt das Land jedoch nicht nur für ein organisatorisches Problem. Denn die Revolution, das sollte man nicht verkennen, konnte auch deshalb so leicht und fast unblutig von Statten gehen, weil kaum Männer im „waffenfähigen Alter“ vor Ort waren. Und die, die es gab, waren zumeist Arbeiter kriegswichtiger Betriebe und links organisiert. Doch es zeigt sich, dass auch das Gros der heimkehrenden Soldaten genug von bewaffneten Auseinandersetzungen hat. Die meisten sind kriegsmüde und wollen nur noch Hause.

Wer aber soll den Staat dann verteidigen? Berlins Stadtkommandant Otto Wels ruft zur Bildung einer „Republikanischen Soldatenwehr“ zum Schutz der Regierung und der Sicherung der öffentlichen Gebäude in der Hauptstadt auf. Am 9. Dezember wird er verkünden, dass die Aufstellung von 10.000 Mann beendet sei. Alle Mitglieder würden Armbinden mit einer Nummer und Lichtbildausweise mit sich führen. Viele Historiker glauben, die Einheit sei in Wahrheit viel kleiner gewesen und viele Rekrutierten, seien nur darauf bedacht gewesen, ihr Essen und ihren Lohn zu bekommen.

 

Aus heutiger Sicht werden unter „Freikorps“ meist nur jene irregulären, ultrarechten Einheiten verstanden, die gegen die Regierung kämpften. In den ersten Monaten nach Kriegsende entstehen jedoch Freikorps verschiedenster Couleur. Etwa die „roten Matrosen“: Diesen Spitznamen trägt die Volksmarinedivsion, die Obermaat Paul Wieczorek am 11. November aus aufständischen Matrosen gegründet hat. Wieczorek wurde dann schon zwei Tage später im Streit um die Führung erschossen. Wiederum zwei Tage später kam dann sein Mörder, Korvettenkapitän Friedrich Brettschneider, unter ungeklärten Umständen zu Tode. Neuer Befehlshaber wurde der Cuxhavener Gewerkschafter Otto Tost. Trotz dieser Führungskrise hat die Volksmarinedivision im Gegensatz zu anderen Einheiten, die sich schnell auflösen, Zulauf. Bis Ende November wird ihre Zahl auf 3.200 Mann anwachsen. Stadtkommandant Otto Wels zieht auch sie zur Sicherung von Einrichtungen wie dem Preußischen Abgeordnetenhaus, der Reichskanzlei, der Reichsbank, der Bahnhöfe, aber auch für Bereitschafts- und Streifendienst heran.

 

Als dann Mitte Dezember die Gardetruppen in Berlin einziehen und größtenteils demobilisiert werden, nehmen die Versuche, die Soldaten neu zu rekrutieren – aus damaliger wie heutiger Sicht – unübersehbare Züge an. So entstehen etwa die „Suppengarde“, die von Unteroffizier Gustav Suppe aus Mitgliedern des 2. Garde-Regiments gebildet wird, die „Maikäfer“ von einem Feldwebelleutnant Schulze aus Resten des Garde-Füsilier-Regiments aufgestellt, und die „Franzer“, die Freiwilligen des Kaiser Franz Garde-Grenadier-Regiments. All diese Einheiten stehen im Prinzip auf Seite der Regierung. Es wird sich jedoch herausstellen, dass damit nicht unbedingt, verlässlicher militärischer Gehorsam verbunden ist. Einem Teil der Freiwilligen ist es vermutlich in erster Linie wirklich darum zu tun, Lohn und Brot zu haben, während sich die Kampfbereitschaft in Grenzen hält. Andere werden sich, als die Konflikte innerhalb des linken Lagers ausbrechen, neu fragen, wem ihre Loyalität wirklich gilt.

 

Aber auch die Wurzeln der rechten Freikorps liegen in diesem ersten Monaten der Republik. Sie werden in der Regel von Großagrariern, Industriellen, der „Antibolschewistischen Liga“, dem „Groß-Berliner Bürgerrat“ oder anderen Institutionen finanziert, die am liebsten das Rad der Geschichte ganz zurückdrehen möchten. In ihnen sammeln sich weniger die „normalen“ Soldaten, als stockreaktionäre Offiziere und vor allem junge Männer, die bereits mit 10 oder 12 auf Kadettenanstalten gekommen und zum künftigen Offizier gedrillt worden waren. Sie waren dort von einer Ideologie umgeben, die Militär, Krieg und Vaterland (im Allgemeinen und Preußen im Speziellen) glorifizierte und in quasireligiöse Dimensionen erhob, wo aber alle anderen Geisteshaltungen bestenfalls totgeschwiegen, schlimmstenfalls verteufelt wurden. Ziel der ganzen Erziehung, war, sich im Krieg zu bewähren, was dazu führte, dass ein Großteil dieser Zöglinge den Krieg auch herbeisehnte.

Diese Soldaten konnten nichts anderes und waren deshalb nach der Niederlage auf der Suche nach neuen Möglichkeiten, „ihr Handwerk“ ausüben zu können. Mehr noch, nach einer Chance, sich in ihrer Überzeugung zu bestätigen, zu Kriegern und Siegern geboren zu sein. „Man redete uns vor, dass der Krieg nun zu Ende sei. Wir lachten darüber. Denn der Krieg, das waren wir selbst. Seine Flamme brannte ins uns fort und umzog unser ganzes Tun mit dem glühenden und unheimlichen Bannkreis der Zerstörung“, beschreibt der Freikorps-Mann Friedrich Wilhelm Heinz das Gefühl später. Die meisten dieser Freikorps-Mitglieder sind radikal antidemokratisch, antibolschewistisch, antiliberal und oft auch antisemitisch eingestellt. Bis März 1919 entstehen etwa 100 Korps mit einer Gesamtzahl von 250.000 Kämpfern. Die Beschaffung von Waffen ist kein Problem. Es gibt offizielle Schätzungen, nach denen in den Wochen nach dem Waffenstillstand knapp zwei Millionen Reichswehrwaffen, vor allem Gewehre, aber auch einige Maschinengewehre und leichte Mörser „verloren“ gingen, teils verkauft von Soldaten, die sich auf eigene Faust von der Front nach Hause durchschlugen.

 

Ein Betätigungsfeld der Freikorps wird das Baltikum. Die Sowjet-Armee nimmt die Aufhebung des Friedens von Brest-Litowsk durch die westlichen Siegermächte zum Anlass, dessen Rückeroberung zu versuchen. Erstes großes Ziel ist die Stadt Narva an der russisch-estnischen Grenze. Die neue Regierung in Berlin hat eigentlich wenig Interesse, die baltischen Gebiete zu halten. Doch sie steckt in einer kuriosen Zwickmühle. Während sich die Siegermächte mit dem Waffenstillstand von Compiègne ansonsten alle Mühe gegeben haben, Deutschland militärisch unschädlich zu machen, verpflichtet Paragraph 12 sie, das Baltikum gegen die Rote Armee zu verteidigen. Doch die dort stationierten Soldaten sind genauso kriegsmüde wie die an der Westfront. An vielen Orten übergeben Soldatenräte Stellungen kampflos und verkaufen Heeresgut.

Für die Baltendeutschen, die seit den Tagen des Deutschen Ordens die Oberschicht in der Region bilden, geht es jedoch um ihre Heimat. Die meisten haben im Krieg auf Seiten des des russischen Zarenreichs – und damit gegen Deutschland – gekämpft. Doch nun begrüßen viele den Beistand deutschnationaler Freikorps im Kampf gegen die Rote Armee. Doch auch die einheimischen Jugendlichen greifen zu den Waffen. So kämpfen etwa deutschbaltische Corpsstudenten aus Dorpat (Tartu) und Riga als Baltenregiment in der estnischen Armee für die Unabhängigkeit Estlands, die Anfang 1920 im Frieden von Tartu von der Sowjetunion garantiert wird und bis 1940 Bestand haben wird.

 

Dagegen hat der Versuch Elsaß-Lothringens als unabhängige Republik weiterzubestehen, keinen Bestand. In Mülhausen marschieren französische Truppen ein und beginnen mit der Besetzung des Landes. Von einem Teil der zwischen bürgerlicher Demokratie und Sozialismus, Deutschland und Frankreich tief gespaltenen Bevölkerung werden sie mit Jubel begrüßt. Ähnlich sieht es in anderen Städten aus. Überall werden deutsche Denkmäler gestürzt. In der Kathedrale von Metz werden einer neogotischen Figur des Propheten Daniel, der die Züge Kaiser Wilhelms II. trägt (der charakteristische Schnurbart wird später von den Nazis entfernt werden), Handschellen angelegt und ein Plakat mit der Aufschrift „Sic transit gloria mundi“ umgehängt. Präsident Raymond Poincaré erklärt: „Ich erinnere daran, dass Elsaß-Lothringen aufgrund seiner geographischen Lage zu Frankreich gehört. Um die Rückkehr Elsaß-Lothringens an Frankreich zu rechtfertigen, genügt der Hinweis auf die jahrhundertelange Dauer gemeinsamen Ruhmes und auf die gemeinsam erlittenen schweren Kriegsjahre. Eine Volksabstimmung würde an der Wucht der Tatsachen nichts ändern können. Es hieße die Gerechtigkeit herausfordern, wollte man die Rückkehr der vergewaltigten Völker zur Freiheit von einer neuen Befragung abhängig machen.“ Auch in der Folge besteht Frankreich darauf, keine Volksabstimmung abzuhalten. Am 5. Dezember wird der Anschluss Elsaß-Lothringens an Frankreich proklamiert, der schließlich durch den Friedensvertrag von Versailles bestätigt wird. Alle deutschsprachigen Einwohner, die, bzw. deren Vorfahren erst nach 1870 eingewandert sind – insgesamt rund 250.000 Menschen – werden durch Militärkommissionen ausgewiesen, ebenso jene, denen man Kollaboration mit den Deutschen vorwirft wie Eugen Ricklin.

Schreiben Sie einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.