Donnerstag,der 7. November 1918

In München findet am Vormittag auf der Theresienwiese eine große Friedensdemonstration statt, die SPD und USPD gemeinsam organisiert haben. Anschließend zieht der USPD-Vorsitzende Kurt Eisner mit einer kleinen Gruppe Anhänger von einer Kaserne zur anderen und fordert die Soldaten auf, sich der Revolution anschließen, was die meisten mit fliegenden Fahnen tun. Auch der Anarchist Erich Mühsam und seine Frau Crescentia sind in Sachen Revolution unterwegs. In einem Brief an einen Freund schreibt Mühsam später, die Versammlung auf der Theresienwiese sei trotz der ungeheuren Menschenmenge sehr langweilig gewesen. Dann aber habe er insgesamt sieben Reden vor Kasernen gehalten, dabei als erster die Republik ausgerufen und sei auch beschossen und leicht verwundet worden. Am Abend wird im Mathäserbräu am Stachus ein Arbeiter- und Soldatenrat eingesetzt. Eisner erklärt das Königshaus der Wittelsbacher für abgesetzt und wird zum ersten Ministerpräsidenten des bayerischen „Freistaates“ gewählt. König Ludwig III., ein volkstümlicher, aber auch sehr konservativ-katholischer Monarch, erfährt bei seinem täglichen Spaziergang durch den Englischen Garten von Passanten von der Revolution. Zurück in seiner Residenz findet er diese weitgehend von Wachen und Personal verlassen vor. Gemeinsam mit seiner Familie und dem restlichen Hofstaat flieht er per Auto erst nach Schloss Wildenwart im Chiemgau und dann weiter nach Österreich. Dort verzichtet er am 13. November zwar nicht auf den Thron, entbindet aber alle Beamte und Soldaten von ihrem Treueeid, da er nicht mehr fähig ist, die Regierung zu führen. Damit folgt er dem traditionellen Eidverständnis, dass ein Eid immer gegenseitig bindet und Gefolgschaft nur solange gilt, wie der andere seine Funktion als Führer aufrecht erhalten kann.

 

In allen größeren Küstenstädte, dazu Braunschweig, Frankurt am Main, Hannover, Köln, Leipzig, Lüneburg, Magdeburg, Oldenburg und Stuttgart regieren inzwischen ebenfalls Räte. Diese rekrutieren sich meist aus den Anhängern der SPD und der USPD und sind demokratisch, nicht marxistisch revolutionär gesinnt. Den Vorsitz übernehmen politisch erfahrene linke Parteifunktionäre oder Gewerkschaftler. „Woran man sich freut“, schreibt der eigentlich gegen die Revolution eingestellte Soziologe Max Weber aus Heidelberg an seine Mutter, „ist die schlichte Sachlichkeit der einfachen Leute von den Gewerkschaften, auch vieler Soldaten, z.B. im hiesigen „Arbeiter- und Soldatenrat“, dem ich zugeteilt bin. Sie haben ihre Sache ganz vorzüglich und ohne alles Gerede gemacht, das muss ich sagen.“ Insgesamt geht die ganze Revolution bemerkenswert gewaltlos vonstatten.

Im Wesentlichen geht es darum, die Fürsten und die militärischen Generalkommandos zu entmachten, die gemäß dem immer noch geltenden Kriegsrechts eine Oberaufsicht über alle Behörden haben. Betriebsbesetzungen und Beschlagnahmung von privatem Eigentum finden kaum statt. Ebenso wenig werden zivile Behörden wie Polizei, Stadtverwaltungen oder Gerichte angetastet. Auch bürgerliche Zeitungen wie das Berliner Tageblatt konstatieren, dass die Forderungen der Revolutionäre nicht „von einem radikalen bolschewistischen Geiste getragen sind. Die militärischen Wünsche überwiegen, und nirgends ist von einer Konfiskation des Eigentums oder von einem blutigen Terror die Rede. Allerdings geht man mit drakonischen Strafen gegen all die vor, die sich nicht ohne weiteres den Anweisungen des Arbeiter- und Soldatenrates fügen, um unter allen Umständen die Ruhe und die Sicherheit der Bevölkerung zu gewährleisten. … Im Gegensatz zu Russland, wo der Bolschewismus eine ausgesprochene Diktatur des Proletariats durchzusetzen vermochte, hat in den verschiedensten deutschen Städten die wohlorganisierte und disziplinierte Sozialdemokratie von vorneherein die Bewegung in die Hand genommen und so mit dazu beigetragen, dass es bisher nirgends zu katastrophalen Ereignissen gekommen ist. … Vielleicht wird sich die jetzige Entwicklung des Zusammenarbeiten von Arbeitern und Soldaten in besonderen Räten, als ersprießlich erweisen.“ Als Dauerlösung aber wird das nicht gesehen. „Das notwendige Mittel zur Ordnung der ganzen weiteren Verhältnisse im Reiche und das Ventil für die bestehende Spannung würde … die Einberufung einer konstituierenden Versammlung sein.“ Wollfs Telegraphisches Bureau allerdings, die größte und halboffiziöse Nachrichtenagentur meldet: „Die ganze Bewegung geht – bei aller Unklarheit in Einzelheiten – offenbar von Russland aus.“ Unter den Aufrührern befänden sich „lichtscheue Elemente“ und eine ganze Reihe Fahnenflüchtiger.“

 

In Kiel ist Gustav Noske, nachdem am Vortag sein Aufruf zur Beendigung der Revolution nicht fruchtete, nun bemüht, möglichst viel Einfluss auf den Fortgang der Dinge zu nehmen. Die Köpfe von Arbeiter- und Soldatenrat akzeptieren das. Sie wählen Noske einstimmig zum Nachfolger von Gouverneur Souchon, der umstandslos seinen Posten räumt. Der Arbeiterrat wird zur provisorischen Regierung Schleswig-Holsteins erklärt, eine Ausrufung der Republik verhinderte Noske jedoch. Überhaupt versucht er, möglichst weitgehend die alten Strukturen beizubehalten und auch möglichst viele Offiziere im Amt zu halten. Dazu müssen sie sich dem Soldatenrat unterstellen, was die meisten auch tun. Um weiterhin ein Kommando zu führen, brauchen sie aber auch das Vertrauen ihrer Untergebenen. Wie Noske selber später erklärt, ist er bestrebt das Militär möglichst intakt zu halten, weil auch er glaubt, durch demonstrierte Wehrhaftigkeit, einen „Diktatfrieden“ von Seiten der Kriegsgegner abwenden zu können. Der Historiker Wolfram Wette wirft ihm vor, dadurch die Erprobung eines republikanischen zukunftsorientierten Reformprogramms im Keim erstickt zu haben.

 

Auch die Parteispitze der SPD ist bemüht, die Revolution in geordnete Bahnen zu lenken. Allerdings ist sie inzwischen überzeugt, dass es dafür einen deutlicheren Bruch als bisher mit dem alten System braucht. Um fünf Uhr Nachmittags übergibt sie Kanzler Max von Baden ein Ultimatum. Man werde sich aus der Regierung zurückziehen, wenn der Kaiser nicht bis morgen Mittag abgedankt und der Kronprinz auf den Thron verzichtet hat. Außerdem sollen alle Versammlungsverbote aufgehoben werden, Polizei und Militär zu äußerster Zurückhaltung gegenüber den Demonstranten angehalten und die preußische Regierung im Sinne der Reichtagsmehrheit umgestaltet werden. Am Abend werden die Forderungen, die auch im liberalen bürgerlichen Lager Zustimmung finden, per Flugblatt veröffentlicht. Hinter den Kulissen beraten sich Prinz Max und SPD-Chef Ebert bei einem Spaziergang im Garten der Reichskanzlei. Im Prinzip sind sich die beiden Badenser, der Fürst und der Schneidersohn, einig: Es gilt, die Lage nach Möglichkeit zu beruhigen. Ebert aber hält dafür die Abdankung des Kaisers für unumgänglich. Laut den Aufzeichnungen des Reichskanzlers sagt er: „Wenn der Kaiser nicht abdankt, dann ist die soziale Revolution unvermeidlich; ich aber will sie nicht, ja ich hasse sie wie die Sünde.“ Es ist ein Satz, der oft in Zusammenhang mit Ebert zitiert wird. Vielleicht noch größer als Eberts Hass auf die Revolution war jedoch seine Furcht vor ihr. Es gibt unzählige Belege, wie groß seine Angst vor russischen Verhältnissen war. Russische Verhältnisse, das hieß damals nicht Sowjetherrschaft, sondern Bürgerkrieg und Terror, sowie wirtschaftlicher Zusammenbruch und Terror. In Deutschland kursieren nicht nur unbewiesene Gerüchte, auch seriöse Korrespondenten wie der Baltendeutsche Carl Johannes von Voß, der unter dem Namen Hans Vorst für das Berliner Tageblatt schreibt, versorgen die Öffentlichkeit regelmäßig mit Informationen wie schlimm es im ehemaligen Zarenreich steht.

Doch auch Max von Baden ist eigentlich bereits von der Notwendigkeit der Abdankung des Kaisers überzeugt. Ihn schreckt vor allem die Aussicht, seinem entfernten Onkel die Nachricht persönlich überbringen zu müssen. In den vergangenen Tagen hat er schon – vergeblich – den Großherzog von Hessen und den bayerischen Gesandten Lerchenfeld bekniet, nach Spa zu fahren, um den Kaiser von einem Rücktritt zu überzeugen. Jetzt verspricht er Ebert, den Job doch selbst zu übernehmen – obwohl er sich zu Beginn seiner Kanzlerschaft die Bewahrung der Monarchie auf die Fahnen geschrieben hatte und nun von Wilhelm II. notgedrungen als Verräter angesehen werden muss. Aber durch die sich überschlagenden Ereignisse wird es nicht mehr zur Reise nach Belgien kommen.

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